Ode an das Alter

Foto von Freundin Sissy Brändle: Die Schönheit der Alpen ist überwältigend

Es ist banal, doch es stimmt tatsächlich, zumindest in unserer Wahrnehmung: Je älter wir werden, umso schneller eilt die Zeit – geht Jahr um Jahr vorbei, ohne dass wir genau sagen könnten, wo all die Zeit geblieben ist. Da ist es gut, wenn sie in unserer Erinnerung wenigstens erfüllt und sinnvoll verbracht war, oder nicht? Mein Leben kommt mir bisweilen vor wie eine dicke Schriftrolle, die täglich neu mit Buchstaben beschrieben wird. Da gibt es Anfangsbuchstaben in Silber und Gold, farbenprächtige Ornamente, seitenlange Schönschrift, aber auch leere Abschnitte, nutzlose Schnörkel, krumme Linien, hässliche Tintenkleckse gar – und jeden Abend wird das Manuskript fein säuberlich aufgerollt – bis das Papier eines Tages ausgeht.

Foto Elisa: Abendstimmung am Bielersee, in der Ferne grüßen Eiger, Mönch und Jungfrau

All unsere Lebenserfahrungen, sind die nicht Gold wert? Aber ja doch! Wir haben das Leben gemeistert und viel durchgestanden. Jeder Lebensweg ist einzigartig in seiner Schönheit und Vollendung, in seinen Freuden und Leiden, seinen Irrungen und Wirrungen, dem bewiesenen Mut und, ja, auch dem Verzicht. Wie wir im «stillen Kämmerlein» geweint und mit uns gerungen haben, davon weiss kaum jemand etwas. Das macht uns vielleicht nicht besser, dennoch dürfen wir aufrecht stehen: zu unserem Alter und im verbleibenden Rest unseres Lebens!

Foto Elisa: Der Niesen überstrahlt den Thunersee

Irgendwo habe ich gelesen, dass das Alter nicht so sehr eine Frage der Jahre, sondern des Wissens sei. Wunderbar! Da entsteht in unseren grauweißen Köpfen gleich ein ganz anderes Bild vom unvermeidlichen Älterwerden: nicht Falten, ergrauende Haare, Vergesslichkeit oder abnehmende Leistungsfähigkeit stehen da im Vordergrund – nein: ein reicher Erfahrungsschatz adelt die Alternden und verleiht ihnen den Nimbus von Weisheit und Würde! Wir können es also locker und mit einem Lächeln auf den Lippen geschehen lassen, dass wir jeden Tag – und scheinbar immer rascher – älter werden, denn am Ende sind wir nicht nur reich an Jahren, sondern ebenso reich an Wissen und Erfahrung.

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Mit altersweisen Grüßen, Eure Elisa
02.11.2022

Wasser

Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss zu springen. Auch wenn wir in dieselben Flüsse steigen, fließt immer anderes Wasser herbei. (Heraklit)

Foto Elisa: am Rheinfall, 11.8.22, trotz Wassermangel (2/3 weniger als sonst) noch immer imposant

In Träumen, Spiegeln und Wasser
trifft man den Himmel und die Erde (Weisheit aus China)

Den wahren Geschmack des Wassers
erkennt man in der Wüste. (Aus Israel)

Foto Elisa: am Rheinfall, 11.8.22

Der Römische Brunnen (Conrad Ferdinand Meyer, 1825-1898)
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Foto Denis Belli: Der Brunnen „Fontana dei Cavalli Marini“ in der Villa Borghese, der dem Dichter als Vorlage diente

Der Wassertropfen (Joachim Ringelnatz, 1883-1934)
Ein Wassertropfen fiel vom Himmel;
Es war ein ungezog’ner Lümmel.
Im Grase schlief ein dummer Hase,
Der Tropfen fiel auf seine Nase.
Der Hase dachte sich dabei,
Daß er jetzt totgeschossen sei.
Er sprang in seinem großen Schreck
Aus seinem sicheren Versteck.
Der Jägersmann stand an der Straße
Und schoß ihn wirklich in die Nase.

Foto Elisa: am Rheinfall, 11.8.22

Nichts auf der Welt ist so weich und nachgiebig wie das Wasser
Und doch bezwingt es das Harte und Starke (Laotse)

Das Wort ist wie Wasser, es wird immer einen Weg finden, um zum Meer zu gelangen, wo immer es auch entspringt, und wenn es tausend Jahre dauert, am Ende fließt es ins Meer. (Boualem Sansal, algerischer Schriftsteller, 1949) 

Foto Elisa: am Rheinfall, 11.8.22

Der Schnupfen (Christian Morgenstern, 1871-1914)
Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf dass er sich ein Opfer fasse
– und stürzt alsbald mit großem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.
Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü!“
und hat ihn drauf bis Montag früh.

Foto Elisa: am Rheinfall, 11.8.22

Im fließenden Wasser kann man
sein eigenes Bild nicht sehen,
wohl aber in ruhendem Wasser. (Laotse)

Reichtum

Bei weisen Erzählungen wird mir ganz warm ums Herz – umso besser, wenn sie darüber hinaus mit Humor gewürzt sind. Geht es Euch auch so? Was meint Ihr zu dieser rabbinischen Geschichte?

Bei einem festlichen Bankett sitzen ein Rabbiner und ein katholischer Prieser nebeneinander. Bei der grossen Schlacht am kalten Buffet verweigert der Rabbi die Speisen mit Schweinefleisch. Der Priester rühmt seine Freiheit und isst mit Genuss davon. Dabei meint er zum Rabbiner: «Religiöse Vorschriften, die ihren Sinn verloren haben, muss man fallen lassen. Schauen Sie diesen herrlichen Schinken an, welch eine Gabe Gottes! Wann endlich werden Sie ihn kosten?» Der Jude lächelt: «Auf Ihrer Hochzeit, Hochwürden, werde ich ihn probieren!»

Aus: «Voller Witz und Weisheit» von Axel Kühner

Havah Nagilah (hebräisch הבה נגילה) ist ein hebräisches Volkslied, das traditionell bei jüdischen Feiern gesungen wird. Navah Nagilah bedeutet so viel wie: Lasst uns glücklich sein.

Foto von Freundin Heidi Wildi: Seerose

Oder gefällt Euch diese weise Geschichte aus der Türkei besser?

Hodja ruderte einen berühmten Philosophen über einen See. Der Mann fragte ihn, ob er etwas von Philosophie verstünde. Hodja: «Nein, dafür habe ich nie Zeit gehabt.»

Darauf der Philosoph: «Ach, das tut mir leid für Sie. Da fehlt Ihnen ja Ihr halbes Leben.»

Nach einer Weile fragt Hodja den Philosophen: «Können Sie schwimmen?» Der Philosoph: «Nein, dafür hatte ich nie Zeit.»

Hodja: «Dann wird Ihnen bald Ihr ganzes Leben fehlen. Der Kahn hat ein Loch. Wir sinken.»

Aus: Türkische Sammlung von Hodja-Geschichten, Marlene Fritsch, «Weisheit kommt nicht von allein, das Herz muss ihr Begleiter sein.» Nasreddin Hodja war ein bekannter, weiser Türke, der im 13. Jahrhundert gelebt hat.

Der türkische Sänger heisst Tarkan und wurde in den 90er Jahren mit «Kiss Kiss» berühmt.

Geniesst die Musik! Sie verbreitet Freude und Wohlbefinden. Ausserdem haben Neurologen in wissenschaftlichen Studien bestätigt gefunden, dass Musik frühgeborenen Babies bei ihrer Entwicklung hilft, sowie Verunfallten bei der medizinischen Rehabilitation. Auch auf Demente haben Musik und Tanz eine sichtbar gute Wirkung. Es wird wieder gelächelt, und Erinnerungen kommen zurück. Ist Musik nicht etwas Wunderbares für uns alle?

Liebe Grüsse, Elisa
21.09.2021

Weisheiten

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Heute möchte ich meine zwei Lieblingsanekdoten mit euch teilen, die ich nicht nur für geistreich, sondern ebenso für weise halte.

  • Bitterer Ernst bewegte einen frommen Juden, täglich seine Armut und seinen Hunger im Gebet vor Gott auszubreiten und ihn um Hilfe zu bitten. Aber Gott schwieg. Als die Notlage kaum mehr zu ertragen war, ging der Mann erneut in die Synagoge und betete: „Ach, Gott, hörst du mir gar nicht zu? Jetzt flehe ich dich jeden Tag an, dass du mich endlich in der Lotterie gewinnen lässt, und doch passiert einfach nichts. Siehst du nicht, wie schlimm es um mich und meine Kinder steht? Warum hilfst du uns denn nicht?“

    Da ertönte von oben herab eine Stimme: „Gib mir eine Chance, kauf endlich ein Los!“

Macht der Glaube an eine Höhere Macht passiv? Hoffentlich nicht. Wir sollten selbst mithelfen, Probleme anzupacken, damit eine Änderung zum Guten eintreten kann.

  • Ein frommer Pfarrer ging im Moor spazieren. Eine Unachtsamkeit: er stolperte, sank ein. Auf einem nahen Strässchen kam bald darauf die Feuerwehr vorbei. Als sie den Pfarrer entdeckten, riefen die kräftigen Mannen: «Herr Pfarrer, brauchen Sie Hilfe?» Der Pfarrer, der inzwischen bis zu den Knien eingesunken war, antwortete tapfer: «Nein, Gott hilft.» Die Feuerwehr-Mannen fuhren ihres Wegs, während der Pfarrer still weiterbetete. Als ihm das Wasser bis zu den Hüften stand, kehrte die Feuerwehr zurück. Die Leute hielten an und fragten erneut: «Herr Pfarrer, können wir Ihnen helfen?» Wieder tönte es zurück, wenn auch etwas schwächer: «Nein, Gott hilft.» Die Feuerwehr fuhr weg. Der Gottesmann betete mittlerweile flehentlich, doch die Hilfe blieb aus, das Wasser stieg höher und höher, bis zu seinem Hals. Ein drittes Mal kam die Feuerwehr dahergebraust. Wie aus weiter Ferne hörte der Pfarrer sie rufen: «Können wir Ihnen denn nicht helfen?» Mit letzter Kraft stammelte der Fromme: «Nein, nein, Gott hilft.»

    Kurz darauf stand er vor dem Himmelstor und sah Petrus vorwurfsvoll an. «So unerschütterlich habe ich an Gott geglaubt», reklamierte er, «und das ist jetzt der Lohn, ihr habt mich ertrinken lassen.» Kopfschüttelnd musterte Petrus ihn und meinte: «Was können wir denn mehr für dich tun als dir dreimal die Feuerwehr vorbeischicken?»

Gut, hoffen wir in schwierigen Situationen auf ein Wunder! Besser noch: Lassen wir uns auch von lieben Menschen helfen! Sie könnten uns von Gott gesandt sein…

Elisabeth, 29.7.2020

Indische Weisheit

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Es wäre anmaßend, Euch vorzugaukeln, ich kennte ein Land, in dem ich lediglich meine Ferien verbracht habe. In meinen Beiträgen blitzen Streiflichter auf, kurze Momentaufnahmen, die meine persönlichen Eindrücke spiegeln, die andere Reisende womöglich völlig unterschiedlich beurteilen. Ich glaube allerdings nicht, dass zum Beispiel Indien irgendjemanden kalt lässt. Vielmehr scheint es bei allen Besuchern äußerst intensive Empfindungen hervorzurufen.

Im riesigen Land fallen als Erstes Gegensätze von geradezu Shakespeare’scher Dramatik auf. So viele Farben von einzigartiger Leuchtkraft! So viel Lebendigkeit und ausgelassene Fröhlichkeit! So viel Ruhe in den sich ins Unendliche erstreckenden Landschaften! So viel handwerkliche Kunstfertigkeit! So viel reine Schönheit und Anmut in Menschen und Baukunst! So viel Würde und Religiosität! Solch betörende Düfte! Und dicht daneben Gestank, Hoffnungslosigkeit, Armut, Schmutz, Elend, Verachtung… Ein Land, das den Taj Mahal hervorgebracht hat und eine derart vielfältige, reiche Kultur voller Erhabenheit, Formvollendung und Pracht sein Eigen nennt, hat – wie könnte es anders sein – ebenso eindrückliche Schattenseiten.

Die scharfen Gegensätze drangen mir direkt in Herz und Gemüt. Im Völkerkundemuseum der Entfaltung eines indischen Ragas zu lauschen, war für mich schon immer ein besonderer Kunstgenuss. (Die Tonleitern der westlichen Musik benutzen maximal 12 Töne pro Oktave. Die klassische indische Musik orientiert sich dagegen an den Shrutis (Mikrotönen), die eine Oktave in 22 Schritte unterteilen, was das Musizieren anspruchsvoll macht.)

Und nun drohte mich die Spannung zwischen Zauber und Not zu zerreißen. Das Märchenland-Ambiente der Hotels machte diese zu wahren Oasen, die Chaos und Entbehrung weit weg verbannten – und doch hielten wir uns nicht mit wirklich reinem Gewissen dort auf, obwohl sie Erholung von den stets neuen Gefühlsaufwallungen des Tages boten, eine Erholung, nach der wir uns jeweils dankbar ausstreckten:  

Da war der Handwerker, der unter Schmerzen – mit dem glanzvollen Taj Mahal im Rücken und einem wegen der Arbeit mit dem Meißel abfallenden Fingerglied – die edelsten Gegenstände aus dem pickelharten Marmor hervorzauberte. Oder die Mutter, die am Boden kauernd neben einer Kloake aus Scheiße und Motorenöl Chapati briet, um die große Familie im zerrissenen Plastikzelt zu ernähren. Oder die Straßenarbeiterin in ihrem leuchtend violett/gelben Sari, die in der glühenden Mittagshitze den Pickel wuchtig schwang und schwerste Bauarbeiten ausführte. Oder die brandmagere Kuh, die mit sanften Augen in die Welt blickte und hungrig Plastikabfälle fraß, denn Kühe, die keine Milch mehr geben, bringen Unglück. Sie werden deshalb von zu Hause weggetrieben und ihrem Schicksal überlassen, obwohl sie heilig sind.   

Oder der Maler, der im Keller des prunkvollen Palast-Museums die göttlichsten Miniaturen schuf, umgeben vom beißenden Gestank nach Urin. Oder die versehrte Bettlerin, deren flehender Blick in puren Hass umschlug, als wir ihrer Bitte um Almosen nicht gleich Folge leisteten, während das winzige Baby auf ihrem Arm die ausdrucksstarke mütterliche Gestik für „Hunger“ exakt nachahmte. Oder die Familie, die auf der Eisenbahnstation lebte und sich wenigstens notdürftig waschen konnte, weil aus einem kleinen Hahn an einer Bahnsteigsäule etwas kaltes Wasser rann. Oder der Priester, der am Pilgerort in einem Häuschen mit verschissener Hausmauer wohnte und mit feierlich-würdevoller Miene Opfergaben in den Heiligen See streute. Oder der Mann, der auf seiner armseligen Matratze am Straßenrand starb, während der hektische Verkehr unablässig vorbeirollte: abenteuerlich beladene Lastwagen, farbig bemalte, berstend volle Busse mit lachenden Gesichtern an den Scheiben, Kühe, Ziegen, Motorroller, Privatautos, Hand-, Ochsen- und Eselskarren, deren hoch aufgetürmte Lasten gefährlich schwankten, Velos, Tuk-Tuks, Rikschas, ja sogar Kamele und Elefanten. Das pralle Leben hält in Indiens Städten keinen Moment still. Es ist eine ungewöhnliche, fremdartige Welt, die einen ganz eigenen Sog auf den westlichen Betrachter ausübt.

Einlullend, aber nicht eigentlich tröstlich, wirken indische Weisheiten wie etwa jene, die Dickie, ein Anhänger des Jainismus, mir verraten hat: „Die Lotusblume ist ein Symbol dafür, wie man weise lebt. Sie wächst aus Schlamm und Wasser heraus, wird davon jedoch nicht berührt. So sollte man sein Leben führen: unberührt vom äusseren Schmutz und innen rein.»

Schön und gut, aber kommt es nicht eher darauf an, in welchem Land man geboren wird? Oder ist dies falsch gedacht? Sind die meisten dieser Menschen nur in unseren westlichen Augen derart benachteiligt?

Elisabeth, 21.8.2019