
Kürzlich spazierte ich in meinem früheren Wohnquartier an einem Haus vorbei, in dem sich vor vielen, vielen Jahren eine Kleider-Boutique befand. Sofort war die Erinnerung wieder da!
Mein damaliger Mann hatte eine wohlhabende Tante, die viel Wert auf Äusseres und besondere Kleidung legte, war sie doch selbst eine begehrte «Haute Couturière» für reiche Damen. Es war also nicht erstaunlich, dass sie ihrem Neffen Vorwürfe machte, weil er mir, die ich mit Kind und Haushalt beschäftigt war, nie neue Kleider kaufte. Grosszügig wie sie war, nahm sie mich eines Tages beim Arm und ging mit mir in besagte Boutique. Dort wählte sie einen Wintermantel, zwei Kaschmir-Pullover und eine lange Hose für mich aus.

An der Kasse sagte sie zur Boutique-Besitzerin: «Sie geben dieser armen jungen Frau bestimmt einen grosszügigen Rabatt.» Ich wurde feuerrot im Gesicht. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Die Boutique-Besitzerin schaute die mit teurem Schmuck behängte und in einen edel schimmernden Pelzmantel gehüllte Dame empört an und antwortete schnippisch: «Wir haben feste Preise hier.» Tante bezahlte den hohen Betrag, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann verliessen wir den Laden, die Tante hochmütigen Hauptes, ich peinlich berührt. Trotz der schönen Kleider konnte ich mich nicht richtig freuen. Die Boutique betraten wir beide nie mehr, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Dann begann sie, lange oder kurze Kleider für mich zu nähen, damit sie sich im teuren Restaurant «nicht mit mir nicht schämen müsse». Wenn sie uns einlud, hatte mein Mann seinen dunklen Hochzeitsanzug anzuziehen, und ich vorher im langen Kleid bei ihr vorbeizugehen, damit sie mir für ein paar Stunden eines ihrer wertvollen Schmuckstücke um den Hals legen konnte. Obwohl ich Gefallen an bunten Stoffen, schönen Schuhen und Kleidern fand, war mir dies hier schlicht zu viel. Was für sie eitel Vergnügen war, war für mich eitles Gehabe.
Und doch, ihr verdankte ich die elegantesten Roben, die ich je besessen hatte. Sie saßen wie angegossen. Am liebsten war mir mein ehemaliges Hochzeitskleid im Empire-Stil, das sie in ein hinreißendes Ballkleid verwandelte, indem sie Ornamente aus winzigen, türkisfarbenen und silbernen Perlen ins gesamte Oberteil stickte. Dazu schenkte sie mir passende Ohrhänger und ellbogenlange Handschuhe in Türkis. Doch wie begabt, wie grosszügig und anmutig sie war, ging mir erst später wirklich auf.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie geliebt habe. Mit ihrer starken Persönlichkeit schüchterte sie mich ein. Und als junge, unsichere Ehefrau dachte ich vor allem an meine eigene Befindlichkeit.
Über ihre gelegentlichen Taktlosigkeiten kann ich heute nur schmunzeln.
02.02.2022
Ihr Lieben, mit den folgenden zwei Bildern aus dem reizenden Städtchen Ascona verabschiede ich mich für ein paar Wochen von Euch, da ich mich Mitte Monat einer Operation unterziehen muss. Ich wünsche Euch inzwischen eine frohe, sonnige Zeit. Eure Elisa

