
Es war schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte.
Nun ist die Wohnung meines Sohnes beinahe geräumt. Dem Leben und Sterben eines über alles geliebten Menschen so nah zu sein, ihm anhand von Alltäglichkeiten und Erinnerungsstücken während Tagen immer wieder aufs Neue intensiv zu begegnen, kostete mich eine schier übermenschliche Anstrengung. Es war aufwühlend, erschütterte mich als Mutter bis ins Innerste. Auch gleicht solches einem Eindringen in das ganz persönliche, intime Leben eines anderen, das man normalerweise auch unter Nächsten respektiert.
Die Begegnungen weckten natürlich nicht nur Trauer. Ein weiterer Schritt im Loslassen konnte gewagt werden, frohe Erinnerungen wurden wach. Die praktisch ausgestattete Küche mit den vielen Gewürzen und den Kochbüchern, die halb abgebrannten Kerzen und Kerzenständer im Wohnzimmer, die betörenden Duftlämpchen, die eindrückliche Musiksammlung, der elektronische Sternenhimmel im Schlafzimmer, die Klimaanlage, die zahlreichen eleganten Kleider und Schuhe, die von seinem Schönheitssinn erzählten, die Bücher, die von seinem starken Willen zu beruflicher Vervollkommnung und persönlicher Reifung zeugten – all dies ist Ausdruck davon, dass sich aus dem einst empfindsamen Kind ein feiner, tüchtiger Mann entwickelt hatte, der mitten im Leben stand. Immer wieder aufs Neue vermochte er mich zu Lebzeiten zu überraschen und zu bezaubern. Jetzt ist da nur noch die fast abstrakte und doch so kostbare Erinnerung… Gut, kann ich auf DEN MANN und seine Fürsorge zählen. Wiewohl «lediglich» Stiefvater, leidet er ebenfalls und versteht mich.
Tröstend klingen die Abdankungsworte des Pfarrers in mir nach: «Ein Mensch, der morgens noch voll Leben ist, kann schon vor Abend unbeachtet sterben. Wenn Gott die Seile seines Zeltes löst, dann muss er fort. Er weiss nicht, wie’s geschieht.» (Hiob 4,21) Erklärend fügte er bei: «Gott löst die Seile, wenn es Zeit ist. Gott und nicht der blinde Zufall oder ein tragisches Schicksal. Und weil Gott selbst die Seile löst, dürfen wir wissen: Mit dem Sterben gehen wir nicht verloren. Nein, Gott löst die Seile, weil die Reise weitergeht, weil er mit uns eine Zukunft vorhat, die über das Zeitliche hinausgeht (Zitat: Pfr. Markus Niederhäuser,Bern).
Diese Worte lassen Verstehen in mir aufkeimen. Bitterkeit ist keine in mir – nur ein grenzenloser Schmerz, der jetzt zu mir gehört – bis auch meine Seile von Gott gelöst werden.

26.8.2020, Elisa