
Der Engländer Charles Dickens (1812 – 1870) gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. «David Copperfield», «Oliver Twist» u.a. sind Euch bestimmt ein Begriff. Dieser begabte Mann wusste die sozialen Missstände und das Leben der bitterarmen Unterklasse so kraftvoll und leidenschaftlich zu schildern, dass er die Zeitgenossen wachrüttelte und seine harschen Worte zu sozialen Reformen beitrugen. Als junge Frau war ich bitter enttäuscht, als ich erfuhr, dass dieser vortreffliche Schriftsteller alles andere als ein vortrefflicher Ehemann war, sondern einer, der seine Ehefrau nach der Trennung öffentlich verleumdete. Und dies, obwohl er vermutlich schon längere Zeit eine geheime Beziehung mit einer jungen Schauspielerin unterhielt. «Wie geht das zusammen, hohe Kunst und mieser Charakter?» fragte ich mich ernüchtert.

Vor einiger Zeit las ich im Magazin unserer Tageszeitung ein «Editorial» von Bruno Ziauddin, das diese Problematik aufgreift:
Der italienische Goldschmied und Bildhauer Benvenuto Cellini (1500-1571) war einer der bedeutendsten Künstler der Renaissance. Dass er auch eine ganz andere Seite hatte, lesen wir in seiner Biografie, in welcher ihm zwei Morde und ein Totschlag sowie sexuelle Übergriffe auf Frauen und Minderjährige angelastet werden.

Die Liste von Männern, die auf ihrem Gebiet grosse bis sehr grosse Künstler, menschlich jedoch kaum Vorbilder waren, ist lang. Auf die Liste gehören Namen wie Caravaggio, der einen Nebenbuhler mit dem Schwert tötete, Paul Gauguin und Edgar Allan Poe (Pädophilie), Richard Wagner (Antisemitismus), LeCorbusier (Nazi-Freundlichkeit), Ernest Hemingway und Roman Polanski (Frauenfeindlichkeit, Frauenhass).

Peter Handke, einer der besten Schriftsteller der Gegenwart, hegt eine gewisse Faszination für den Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und begegnet dem Völkermord von Srebrenica mit erschreckender Gleichgültigkeit. Eva Menasse schrieb anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Handke: «Das ist eines der Geheimnisse der Kunst und unverhandelbar; sie wird nicht vom guten Menschen geschaffen, sondern vom genialen.»
Was sagt Ihr zu diesem Satz? Die Liste der fehlbaren Künstler ist leider erschreckend lang. Man kann sie beliebig fortführen.

Spiegelungen führen zu Täuschungen
In diesem Zusammenhang könnte man sich allerdings fragen: Weshalb erwarten wir von Künstlern, dass sie einen makellosen Charakter haben, ja, dass das Böse ihnen so fern liegt wie dem Erzengel Gabriel? Es ist reines Wunschdenken, dem auch ich gerne erliege. Selbst Goethe ist hinter seinem Ideal „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ zurückgeblieben, das er in der Ode „Das Göttliche“ festschrieb.
Wir lieben Menschen auf dem Podest. Doch äußere Schönheit (Kunstwerk), trifft selten auf innere Schönheit (Reinheit). Oft sind Künstler im Gegenteil gequälte Seelen. Es ist eine Tatsache, dass Kunstwerk und Persönlichkeit häufig auseinanderdriften. Künstler und Genies sind Versuchungen ebenso ausgeliefert wie alle Menschen – mit dem Unterschied, dass sie eine wundervolle Begabung geschenkt bekommen haben, die sie womöglich da und dort gerade deshalb überborden lässt. Dürfen wir uns an den Kunstwerken freuen, selbst wenn ein ungutes Gefühl hängen bleibt? Das ist eine heikle Frage. Denn natürlich muss Ungerechtigkeit klar benannt, müssen Verbrechen gesühnt werden. Doch ich neige im Großen und Ganzen dazu, ein Kunstwerk losgelöst vom Charakter seines Schöpfers zu betrachten. Allerdings wäre es mir, ehrlich gesagt, lieber, wenn Künstlertum auch zu Reife und innerer Stärke führen würde – was glücklicherweise ja nicht ausgeschlossen ist.

Farbenpracht und herbstliche Reife
Der Rat des Harvard-Psychologen Steven Pinker wirkt entlastend: «Du brauchst nicht zu allem eine Meinung zu haben.» Trotzdem frage ich Euch: Wie denkt Ihr darüber? Sind menschliche Abgründe etwas Normales, die einem Kunstwerk wenig bis keinen Abbruch tun?

Blühende und faulende Natur eng beieinander
Nachdenklich, Eure Elisa
17.05.2023

Licht inmitten von Düsternis