Währt ehrlich am längsten?

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Die Engländer sind nicht nur auf eine originelle Art eigenwillig – sie sind auch hilfsbereit. Jedes Mal, wenn ich in England bin, kann ich mich daran freuen. Doch nicht immer ist Hilfsbereitschaft willkommen, wie die kleine Begebenheit zeigt, die mir ein englischer Freund erzählte.

Eine Frau in einem vornehmen Londoner Vorort bemerkte beim Blick aus dem Fenster, wie zwei Männer in weissen Overalls die wertvollen Orientteppiche ihrer Nachbarn aus dem Haus trugen und in einen bereitstehenden Lieferwagen luden. Da die Nachbarn für zwei Wochen nach Frankreich verreist waren, rannte die Frau auf die Strasse und die beiden Männer zu, um sie zur Rede zu stellen: „Was machen Sie denn da? Meine Nachbarn sind doch in den Ferien!“ „Eben,“ antwortete einer der Männer, „deshalb haben sie uns gebeten, sämtliche Teppiche im Haus während ihrer Abwesenheit zu reinigen. Sehen Sie,“ und er wies auf die Seitenwand des Lieferwagens, „hier steht es schwarz auf weiss: TEPPICHREINIGUNGEN.“ „Ach so,“ meinte die Frau erleichtert. „Moment mal, könnten Sie dann auch gleich meine vier Seidenteppiche zum Reinigen mitnehmen?“ „Natürlich, gerne,“ erwiderten die Männer, hilfsbereit lächelnd. Eine Viertelstunde später fuhren sie mit ihrer wertvollen Fracht davon.

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Fast haben wir’s geahnt: sie verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Bei so viel Dreistigkeit schluckt man erst einmal trocken: Kriminelle, wie sie im Buche stehen!

Schon als Kinder haben wir gelernt: «Ehrlich währt am längsten.» Vertrauen gründet auf Ehrlichkeit. Es betrübt mich, dass wir mit Mauscheleien allüberall leben müssen, von Sport, Politik bis in die Finanzwelt. Das Leben ist ungerecht. Doch Hand aufs Herz: Wie steht es bei uns selbst mit kleinen Schummeleien? Setzen wir uns da Grenzen?

Kolkrabe – Porträt

Als junge Mutter arbeitete ich samstags in einem Warenhaus, um noch etwas hinzu zu verdienen. Man teilte mich bei der Herrenbekleidung ein. Dort gab’s viele Stammkunden. Dementsprechend oft wechselte das Sortiment. So boten wir an einem heissen Julisamstag neben den eher langweiligen Standard-Modellen auch einen grossen Posten topmoderner Badehosen an. Dank den glänzenden Pastellfarben und ihrem rassigen Schnitt verkauften sie sich wie frische Küchlein. Doch dann kamen die ersten Reklamationen, die sich rasch häuften. Und alle erzählten sie dasselbe. Sobald die gutsitzende Badehose mit Wasser in Kontakt kam, weitete sie sich dramatisch aus. Daher fanden sich die badenden Herren nach ein paar Schwimmzügen zu ihrem Entsetzen im Adamskostüm wieder und mussten eiligst – und vor allem diskret, wenn dies denn noch möglich war – aus dem Pool in die Kabine fliehen.

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Als ich zwei Wochen später wieder im Warenhaus stand, war an prominenter Stelle unseres Rayons eine Kartonschachtel mit ebendiesem Badehosenmodell aufgestellt – doch nun prangte daneben ein grosses Schild, das verkündete: Sonderangebot! Solange Vorrat! Greifen Sie zu – nur drei Franken! Im Gegensatz zum Schild war die Schachtel nicht sehr gross. Um den Eindruck eines beschränken Restpostens zu erwecken, wurde sie von der Rayonchefin fleissig nachgefüllt. Das empörte mich. Wenn ich einen Kunden hatte, der das Schnäppchen kaufen wollte, versuchte ich, es ihm auszureden. («Die Farben der Badehosen passen nun wirklich nicht zu Ihren Augen»…) – meistens natürlich vergebens. Was ist das für ein Impuls, der uns Menschen dazu bringt, etwas vor allem deshalb zu kaufen, weil es billiger ist? Am Ende ist es wahrscheinlich meist zu teuer, weil man es gar nicht braucht, oder weil die Qualität minderwertig ist wie in meinem wahren Beispiel.

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Tatsächlich griffen die Kunden den ganzen Tag wie verrückt zu. Am Feierabend war der gesamte Bestand der schillernden Badehose verkauft – und ich um eine unschöne Lebenserfahrung reicher.

In der folgenden Woche gab es keine einzige Reklamation mehr.

Sagt, findet Ihr das nicht auch fies?

24.02.2020 Elisa

Seine Krone zu verlieren, kann jedem passieren…