Eine rabenschwarze Geschichte

Brief von Annegret aus dem Altersheim:
Unglaublich, was für boshafte Leute es gibt. Die Neue (ich weiss nicht, wie sie heißt) ist noch nicht lange bei uns im Altersheim, und schon macht sie sich unbeliebt. Sie grüßt mich nicht einmal, also grüße ich sie auch nicht. Manchmal lächelt sie, wenn ich ihr auf dem Korridor begegne, aber das Lächeln ist falsch, es ist nur ein schiefes Grinsen. Zwar hat die Pflegerin gesagt, die könne nicht anders lächeln, weil sie einen Schlaganfall gehabt habe. Bäh, wer das glaubt… Ich jedenfalls nicht.
Niemand hört auf mich, wenn ich mich über sie beklage. Die werden noch ihr blaues Wunder erleben mit dieser falschen Schlange. Die ist viel schlauer, als man denkt. Kürzlich war sie in meinem Zimmer. In meinem abgeschlossenen Zimmer! Der Altersheimleiter sagt, das sei nicht möglich. Aber ich weiss schon, wie die das anstellt. Wenn die Reinigungsfrauen im Raum sind, huscht sie unbemerkt hinein und richtet Schaden an, möglich, dass sie sogar einen Nachschlüssel hat. Eine der Blumen auf dem Fenstersims war abgeknickt, einfach so. Schlimmer noch, mein teurer Ring, ein altes Familienerbstück, war weg. Da hab’ ich sie angezeigt, doch wieder hat man mir nicht geglaubt. Das ist doch der Gipfel!

Den Ring habe ich unterdessen gefunden, in der Schublade, wo ich meine Unterwäsche versorge. Sie hat ihn heimlich dort versteckt, davon bin ich felsenfest überzeugt!! Als sie hörte, dass ich sie angezeigt habe, hat sie wohl ein schlechtes Gewissen bekommen. Ha, ich werde alles tun, damit die wieder dorthin gehen muss, wo sie herkommt. Dabei lasse ich meinen Einfluss spielen. Schließlich hat mein Vater, ein Professor h.c., dem Heim an jedem Weihnachtsfest eine Spende gegeben, als er noch lebte.
Da fällt mir ein, vielleicht gehört sie zur Mafia. Ist sie nicht Italienerin? Ja, das muss es sein, hab ich’s doch gewusst! Jetzt heißt es, schnell meinen ganzen Schmuck zu verstecken. Aber wo? Einen Tresor haben wir ja nicht. Das Beste ist, wenn ich all die kostbaren Halsketten, Broschen, Ringe und Armbänder zuunterst in meine Unterwäsche-Schublade lege, dort sind sie unauffindbar für die blöde Ziege. Die wird blöd gucken! Glaubt mir nur.
Eure rechtschaffene Annegret
Nachwort:
Die Geschichte hat sich so nicht zugetragen, zum Glück! Sie hat aber gewisse Ähnlichkeit mit mir bekannten wahren Geschehnissen. Mir fällt auf, wie heutzutage oft hemmungslos über andere hergezogen wird, wie Menschen, gerade auf Social Media, auf unhaltbare Weise verunglimpft werden. Zwar weiss ich aus eigener Erfahrung, wie rasch man mit einem vorschnellen Urteil zur Hand ist. Dies gilt es zu vermeiden, denn es kann zu einer schlechten (und erst noch traurigen) Gewohnheit führen. Bleiben wir bewusst bei den Tatsachen, auch wenn sie sich profan und wenig spektakulär präsentieren! Im Weihnachtsmonat sollte uns das besonders leicht gelingen.
Eure Elisa
14.12.2022