Monte Verità (Forts.)

Foto Elisa: Blick zwischen den Büschen hindurch auf den Lago Maggiore

Der «Berg» wurde rasch zu einem Mythos. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte er sich für Wahrheitssuchende aus ganz Europa zu einem bekannten Treffpunkt.

Foto de.Wikipedia.org.Wiki: Henri Oedenkoven und Ida Hofmann, 1903

Damals so bekannte Menschen wie Hans Arp, Hugo Ball, Ernst Bloch, Hans Richter, Gerhart Hauptmann, Bruno Goetz, Else Lasker-Schüler, Paul Klee, Käthe Kruse und viele andere Berühmtheiten verbrachten Zeit auf dem Berg. Ein weiterer Prominenter war Hermann Hesse, der einige Male länger zu Gast war. Er gehörte zu jenen, die sich aufmachten, um das Für und Wider alternativer Lebensformen zu erproben. «Hermann Hesse war gleich Feuer und Flamme und zog eilenden Fußes nach Ascona», heisst es in einem historischen Bericht von 1906.

Foto Elisa: Palmenstudie

Der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam beschrieb die Szenerie in seinen „Unpolitischen Erinnerungen“ so: „Vegetarier mit teils ernsten Lebensauffassungen, teils höchst spleenigen Erlösungsideen hatten sich an den Abhängen des Lago angesiedelt, bauten Obst an, lebten von Rohkost, lobten den Herrn und sich selbst.“ Und weiter: „Von früh bis spät kaute ich nun Äpfel, Pflaumen, Bananen, Feigen, Wal-, Erd- und Kokosnüsse. Es war schauderhaft!“ (Textquelle: Bericht von Ulrich Neumann, Magazin „Spiegel“)

Foto Elisa: Die Trauben reifen

Zeitgenossen nannten die frühen Bewohner Sandalen-Träger, barfüssige Propheten und Kohlrabi-Apostel. Sie waren nicht nur eine Gruppe von Aussteigern, sondern eine illustre Schar von Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern, Malern, Kommunisten, Anarchisten, Pazifisten, russischen Adligen, Gesundheits- und Ernährungsfanatikern, Asketen, Nacktkulturanhängern, Traumtänzern, Mystikern… und natürlich hatten sie keineswegs alle die gleichen einheitlichen Lebensvorstellungen!

Alte Postkarte, das ehemalige Haus: Man trug weite, bequeme Kleidung
Textquelle: Bericht von Ulrich Neumann, Magazin „Spiegel“

So kam es, dass das Motto «Freie Liebe statt Salami» nicht nur bei Erich Mühsam auf keine freudige Zustimmung stiess, denn nicht alle wollten auf Fleisch, Kaffee, Tabak, Alkohol, Käse und andere Milchprodukte verzichten. Sogar Salz und Pfeffer waren untersagt. Schliesslich musste das strikte Nahrungs-Regime gelockert werden.

Alte Postkarte: Eurythmie-Tanz

Um das Siedlungsprojekt zu finanzieren, gründeten Oedenkoven und Hofmann die Naturheilstätte Sonnen-Kuranstalt, auf die wenig später das Sanatorium Monte Verità folgte. Die Freikörperkultur war auf dem Monte Verità allgegenwärtig. Zum naturnahen Lebenskonzept gehörte, dass man sich ohne Hüllen der heilenden Kraft der Luft und des Sonnenlichts aussetzen sollte.

Foto de.Wikipedia.org.Wiki: Eisenbett in einer der Luft-Hütten

Dafür hatten Oedenkoven und Hofmann in einem Teil des Geländes zwei nach Geschlechtern getrennte „Licht-Luft-Parks“ mit sog. «Luft-Hütten» errichten lassen, wo die Kurgäste „frei von allerlei lästiger Kleidung im Grase ruhen, laufen, turnen, spielen, Garten- und andere Arbeiten verrichten.“ So steht es in einem Prospekt aus dem Jahr 1904. Daneben wurden auch wallende weisse Gewänder oder kurze weisse Hosen getragen.

Foto Krenn: Im Damenbad, vermutlich 1907
Villa Semiramis heute, ohne Türmchen


Die Villa Semiramis, in der wir dieses Mal unser Zimmer hatten, wurde 1909 im Jugendstil vom turinischen Architekten Anselmo Secondo erbaut, damals komplett mit Türmchen. Der Panoramablick von der Villa über den Lago Maggiore ist einmalig. Das Türmchen brachte jedoch Unruhe auf den Berg. Ob neugierige Einwohner von Ascona früher tatsächlich gegen Gebühr auf das Dach der Villa stiegen, um einen Blick auf nackte Sanatoriumsgäste zu erhaschen, ist nicht zweifelsfrei erwiesen, aber immerhin ein hartnäckiges Gerücht. Denn das Türmchen wurde bald abgebrochen, und auf dem Berg kehrte wieder Ruhe ein.

Alte Postkarte: Ackerarbeit ohne lästige Kleidung

Durch die Experimente des Tanzreformers Rudolf von Laban und seiner Münchner Tanztruppe erwarb sich der Monte Verità auch den Ruf als Zentrum des Ausdruckstanzes. Der freie Tanz, vorzugsweise an der frischen Luft geübt, erfolgte ebenfalls unbekleidet oder teilweise in leichten Gewändern, lediglich zu Trommelschlägen, ohne Musik. Leitmotiv war stets der Aufbau einer Verbindung zum Innersten der Tanzenden.

Foto Wienerzeitung.at: Ausdruckstanz
Alte Postkarte mit Hotel

Nach dem ersten Weltkrieg knickte die Blütezeit ein, die finanzielle Situation wurde prekär, der Elan von einst erlahmte. Henri Oedenkoven und Ida Hofmannun hatten sich auseinandergelebt (selbst eine wilde Ehe ist keine Treue-Garantie!) und verliessen die Schweiz. Ida Hofmann starb 1926 nach schwerer Krankheit in São Paulo. 1920 wurde der Monte Verità verpachtet. Der deutsche Bankier Eduard Von der Heydt erwarb ihn 1926 und liess ein Hotel erstellen. Erst nach 1940 verlor der Ort an Bedeutung und an Anziehungskraft.

1964 ging der Besitz aufgrund einer testamentarischen Verfügung Von der Heydts in den Besitz des Kantons Tessin über. Heute ein Ferienort und Seminarhotel, bietet er noch immer eine bezaubernde Auszeit. Auch Ausstellungen, u.a. von Harald Szeemann, können bewundert werden.

Foto: Wikipedia: Das Hotel heute

Nackt läuft heute dort niemand mehr herum! Oder doch? Als ich am Ende der Ferien nochmals in den Zen-Garten hinauf ging, war mir, als bewegten sich zwischen den Bäumen Gestalten – nackte, tanzende, leichtfüssige. Eine Halluzination? Eine Fata Morgana? Oder der schemenhafte Geist der Wahrheit?

Eines ist sicher: Eine besondere Atmosphäre herrscht auf diesem besonderen Berg, der Besucher aus aller Welt immer wieder herbeilockt und in seinen Bann zieht.

Foto Elisa:
Die stark duftende Pflanze Osmantus fragrans.
Sie hüllt ganze Dörfer mit ihrem Duft ein
Foto Elisa: Foroglio im Bavona-Tal

Liebe Grüsse, Elisa
26.01.2022

20 Kommentare zu „Monte Verità (Forts.)

      1. Liebe Brig, es stand ein riesengroßes Plakat beim Hotel-Eingang, das nicht zu übersehen war. Ich mache es gleich wie Du, der Film ist bestimmt gut. Herzlichen Dank für Deinen Beitrag und liebe Grüße, Elisa 🌴🌴🍀🍀

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    1. Liebe Bea, wie schön, dass Du mitgekommen bist! Dein wacher Geist würde wahrscheinlich noch mehr auf dem Berg entdecken. Übrigens finde ich die „weissen Fahnen“ eine super Idee. Leider konnte ich unter deinem Blog keinen Kommentar anbringen. Jedenfalls wünsche ich Euch viel Ausdauer und durchschlagenden Erfolg. Liebe Grüsse, Elisa ☮☮☮☮☮❇❇❇

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      1. ….immer wieder gerne! 🙂
        Und zur Kommentarfunktion in meinem letzten Beitrag:
        Die hatte ich geblockt, da ich ja schon so häufig etwas zu diesem Thema geschrieben habe und alle Leser, die interessiert an dem Thema waren/sind – haben auch bereits Stellung bezogen.
        Daher sah ich es als überflüssig an.
        Es freut mich aber, dass dir die Idee, bzw. Umsetzung der Idee gefallen hat.
        🙂
        Hab ein schönes Wochenende und bleib gesund.
        💗-liche Grüße Bea

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  1. Liebe Gisela, vielen Dank für Deinen Kommentar. Es sind oft etwas „ausgeflippte“ Menschen, die Bewegung in festgefahrene Strukturen bringen. Ich stimme mit Dir überein: Das alte Gebäude sieht gemütlicher aus. Doch der Bauhaus-Stil im neuen Gebäude hat grosszügige, helle Zimmer ermöglicht, in denen man sich wohl fühlt. Dir auch herzliche Grüsse, Elisa

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  2. Liebe Elisa, als absolute Tessin- insbesondere Asconaliebhaberin hast Du mich dieser schönen Gegend mit Deinem Bericht noch ein Stück vertrauter gemacht. Ich habe mich schon mal vor einiger Zeit per Internet für diese Bewegung interessiert, aber Dein Bericht ist um vieles tiefgründiger beleuchtet. Im Hinzufügen der passenden Fotos bist Du unschlagbar! Danke! Liebe Grüße Ursula

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  3. Liebe Elisa, beim Thema „Tessin-Sonnenstube der Schweiz“ fällt mir noch eine Episode ein, die mich sehr beeindruckt hat. Als wir das letzte mal das Varsaskatal besuchten, kam ich ganz am Ende des Tales in einem Bergdorf mit einem Einheimischen ins Gespräch. Dieser erzählte mir von der Armut der Gegend in früherer Zeit und das Familien ihre Söhne im späten Kindesalter als Essenkehrer verdingt haben, damit diese zum Unterhalt der Familie beitragen konnten. Ich wollte es gar nicht glauben und konnte es mir nicht vorstellen. Hast Du auch davon gehört? Wie schön ist es, dass wir uns über alles austauschen können. Herzliche Grüße an einem trüben regnerischen Tag sendet Dir und dem MANN Ursula

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    1. Liebe Ursula, Du hast natürlich Recht: Es gibt und gab im schönen Tessin beträchtliche dunkle Schatten. Ein Beispiel: Im 19. und 20. Jahrhundert waren die Menschen in den abgelegenen Dörfern mausarm, und sie sahen, vor allem im Verzasca-Tal, keinen anderen Ausweg, als ihre Kinder zwischen 5 und 12 Jahren als Spazzacamini (Kaminfeger) nach Norditalien zu verkaufen – für erschütternd wenig Geld, notabene. Die Kinder waren schmal und klein genug, um sich in die Kamine zu zwängen, wo sie sozusagen als lebende Besen den Russ mit den Händen wegkratzen mussten. Oft liess man sie hungern und sie führten ein elendes Leben. Dies dauerte bis zum 2. Weltkrieg. Lisa Tetzner hat ein sehr trauriges Buch über diese Kinder verfasst (Die Schwarzen Brüder) und es wurde vom Schweizer Regisseur Xavier Koller verfilmt. Per E-mail schicke ich Dir einen Link zu einer entsprechenden Sendung des Schweizer Radios. Ich danke Dir herzlich, dass Du an dieses Thema erinnert hast. Liebe Grüsse, Elisa

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  4. Vielen Dank liebe Elisa für Deine Erläuterungen zu diesem unerfreulichen und doch wahrenThema. Man möchte es nicht glauben und doch bestätigst Du diese schlimme Sache in vollem Umfang. Nach dem Buch werde ich bei meinen nächsten Besuch in der Bibliothek fragen und Deinen Link werde ich aufrufen. Vielen Dank für Deine Informationen und Aufklärung sowie Mühe! Du bist ein lebendes Lexikon! Ganz liebe Grüße von Ursula

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    1. Liebe Ursula, das habe ich gerne getan! Wir lasen Lisa Tetzners Buch schon als Kinder, wobei wir die Tragik noch nicht richtig erfassen konnten. Vieles vergisst man dann im Lauf des Lebens. Danke, dass Du mich auf diesen „Schandfleck“ aufmerksam gemacht hast. Das Internet ist fantastisch, es hilft mir bei tieferen Recherchen immer wieder. Habt eine gute Zeit und, vor allem, bleibt gesund! Ganz liebe Grüsse, Elisa

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  5. wenn die Liebe wirlich frei wird, frei für jeden und jede und in jeder Hinsicht, leiblich und auch anders, ist es mir fast schon egal, ob gelbe Rübe oder Salami, Hauptsache, es findet endlich mal statt!
    Aber ich fürchte, wir haben noch einen weiten Weg mit eintöniger Kost, wie sie uns von Leitkulturen und Massenmedien verordnet zukommt, salzlose Suppen.

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    1. Liebe Petra, also ich finde, verzeih mir, kein Haar in der salzlosen Suppe. Ich glaube, jeder/jede findet heute seine zu ihm passende Liebes- bzw. Lebensart. So frei waren wir doch noch nie, zumindest hier im Westen. Ich bin dankbar für diese Freiheit, bin mir aber gleichzeitig bewusst, dass wir uns selbst allzu oft zu Sklaven des Konsums und des Haben-Wollens machen. Ich danke Dir vielmals für den Gedankenanstoss und wünsche Dir in jeder Hinsicht Freiheit. Liebe Grüsse, Elisa

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