
Mein Sohn konnte mit grösstem Vergnügen Unmengen von Essen vertilgen. Kürzlich wurde ich auf der Strasse unvermittelt an ihn erinnert. Schon von weitem gewahrte ich einen winzigen Spatzen, der ganz versunken war in den Genuss eines anscheinend delikaten Fundes. Ich ging vorsichtig näher und blieb zwei Schritte vor ihm auf dem Trottoir stehen. Er bemerkte mich gar nicht, pickte eifrig weiter. Jetzt sah ich, was es war, das ihn derart beschäftigte: ein für ihn viel zu grosses weisses Brötchen, das jemandem wahrscheinlich zu Boden gefallen war. Dann entdeckte ich, dass es nicht das Brötchen selbst war, das er sich so hastig einverleibte, sondern dessen Füllung aus – Kräuterfrischkäse! Da hatte ein kleiner Überlebenskünstler einen mächtigen Wolfshunger! Jedenfalls war er kein Veganer…
Ich liebe die frechen Spatzen. Ob sie deshalb überall überleben, weil sie sich selbst wichtig genug nehmen, um nach ihrer wahren Natur zu leben?

Nicht so der gefangene Vogel, von dem ich Euch erzählen will: In unserem Ferienhotel in Riga befand sich, im opulenten Jugendstil-Speisesaal etwas versteckt, ein grosser Vogelkäfig. Der grüne Papagei darin hiess Micha. Er war sanft und stets ruhig. Bevor DER MANN und ich nach dem Frühstück ins Zimmer zurückkehrten, blieb ich immer bei Micha stehen und redete leise mit ihm. Auf die Zuwendung reagierte er mit ebenso leisen, zärtlichen Lauten. Nur, wenn nachts zuvor im gleichen, gleissend hellen Speisesaal eine stundenlange Sitzung mit vielen Personen stattgefunden hatte, schien er am Morgen völlig übermüdet und öffnete mit schrägem Köpfchen nur eins seiner Augen. Einmal beobachteten wir, wie die Serviceangestellte den Käfig öffnete. Sie scheuchte den Vogel hinaus, ermutigte ihn zum Fliegen. Das sei gut für ihn, erklärte sie uns. Ja natürlich! Gehorsam flog Micha ein, zwei Runden durch den leeren Speisesaal. Es war jedoch ein zaghafter, niedriger Flug, der schon nach kurzer Zeit freiwillig wieder auf dem Käfig endete. Micha wollte partout nicht mehr fliegen! Die spärlich bemessene Freiheit flösste ihm wohl eher Furcht und Schrecken ein. Er fühlte sich offensichtlich nur im Käfig sicher.

Als ich vor 40 Jahren glaubte, in einer unglücklichen Ehe ausharren zu müssen, klagte ich einem Psychologen: «Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig.» Trocken antwortete dieser: «Du bist kein Tier, Du kannst den Käfig jederzeit selbst öffnen.» Das tat ich denn auch, mit viel Gewinn.

Ich vermute, dass nicht nur Micha in einem Käfig sitzt. Es ist natürlich möglich, dass gewisse Käfige auch Menschen Geborgenheit vermitteln können. Bitte versteht mich recht: Ich rede nicht von schmerzlichen, krankheitsbedingten Einschränkungen. Mir geht es um Käfige, die wir uns selbst basteln – Käfige aus Sorgen, aus Angst, aus Schuldgefühlen…, ja, auch goldene Käfige. Sind die nötig? Wie denkt Ihr darüber?
Vergessen wir nie: Wir können einen uns einengenden Käfig zu unserem Wohl sprengen! Ist das leicht? Ich finde nicht. Schon Shakespeare wusste: „Wir ertragen lieber die uns altbekannte Hölle, als den Flug in unbekannte Höhen zu wagen.“ Ja, es ist eine Anstrengung und – zumindest für mich – eine immer wiederkehrende. Es braucht Mut. Doch dafür werden wir belohnt: Die Freiheit lehrt uns, wie wir wieder richtig fliegen!!


Für mich persönlich ist Gottvertrauen hilfreich – und auch, dass ich der Lebensfreude genügend Platz einräume. Womit wir wieder zum Anfang des Beitrags zurückkehren und damit zu meinem Sohn Bernie, der ein Geniesser und Lebenskünstler war. Und der das „Fliegen“ liebte!

23. Juni 2021
Herzlichst, Eure Elisa
Was für ein schöner Bericht, liebe Elisa…und dann die wunderbaren Bilder. Ich bin begeistert von all den Speisesälen. Der Jugendstil-Saal in Lettland erinnert mich an ein Hotel in Weimar. Alles sieht sehr einladend aus. Ich kann verstehen, dass der niedliche Papagei in seinem Käfig bleiben möchte. Er hat sicher schon viel gesehen und gehört. Die Vögelchen sind allerliebst; Spatzen mag ich besonders. Paradiesvögel haben so ihre Eigenarten, aber auch wenn sie mal fallen, rütteln sie ihr Federkleid und gehen weiter. Dein lieber Sohn erinnert mich an meinen Lieblingssänger Freddie Mercury. Lebenskünstler gehen erhobenen Hauptes durchs Ziel und sie hinterlassen Spuren.
Es ist gut, dass Du vor 40 Jahren gegangen bist. Ich bin schon zweimal gegangen. Meistens nur mit meinen privaten Sachen. Ich lasse mich nicht einsperren!
Danke für den schönen Bericht, liebe Elisa. Ich freue mich immer, von Dir zu lesen. Liebe Grüße, Gisela 🌈💕🤗
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Liebe Gisela, danke Dir herzlich für Deinen lieben Beitrag, du hast beeindruckende Begabungen und viel Reife. Ausserdem haben wir einiges gemeinsam: Jugendstil, Freddie Mercury, Freiheitsliebe, Liebe für schöne Texte und Schönheit im allgemeinen, den Mut wegzugehen (das Beste, unsere Söhne, haben wir mitgenommen!), die Freude an feinen Bildern. die Liebe für afrikanische Musik und, und, und… Das berührt mich tief. Ich umarme Dich fest. Liebe Grüsse, Elisa 🌺🌼💚🌷💚
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….und wieder ein liebens-und lesenswerter Blog von Elisa! Dass Du Dich nicht auf Dauer in einen Käfig einsperren lässt, war mir natürlich bewusst. Käfig bleibt Käfig, wenn auch ein goldener …. Ich vertrete auch die Meinung: Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! Also wenn nötig heraus aus den Käfig…wir Frauen haben das einfach nicht nötig und auch nicht verdient.
Auch wir lieben Vögel, die Futterhäuschen werden auch im Sommer etwas gefüllt, damit sie bleiben. Viele Arten, aber auch Fledermäuse, tummeln sich auf unserem Grundstück und aus jedem Fenster können wir sie beobachten. Am meisten aber lieben wir unseren „Bubi“, einen Rostkappenpapagei, er ist nun schon das 12. Jahr Mitglied unserer Familie. Zurückkommend vom Stubaital haben mein MANN und ich schon ca 100 km vor dem Ziel in Vorfreude auf ihn gleichzeitig gesagt „Bubi, wir kommen.“ Der erste Gang führt dann zu seiner Innen- bzw. Außenvoliere. Er liebt Action, ist sehr kontaktfreudig und zutraulich und sehr an uns gewöhnt. Da er sehr neugierig ist, muss er alles erkunden, wenn er sich außerhalb seiner Voliere aufhält und sich im Haus frei bewegt.Da heißt es aufpassen, damit kein Schaden entsteht. Abends kuschelt er mit uns, sitzt stundenlang am Hals und ruft „guter Bubi“. Sobald ich den Telefonhörer in die Hand nehme, ruft er z.B. ununterbrochen „Tschüssi“, was manchmal fast peinlich ist, weil der Gesprächsteilnehmer das falsch verstehen könnte. Alles in allem, er ist etwas wunderbares für die Seele und es ist immer Leben im Haus. Seit wir ihn haben, hat sich bei uns das Verhältnis und das Verständnis zu Tieren insgesamt zum Positiven verändert.
Liebe Grüße Ursula
PS: Vielen Dank liebe Elisa auch für die hübschen Fotos! In diesem Hotel konnte man sich bestimmt wohlfühlen.
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Liebe Ursula, danke herzlich für Deinen liebenswerten Beitrag! Er hat mich erfreut, gerade an diesem Tag, an dem vor einem Jahr die Abdankung meines Sohnes stattgefunden hat. Da sind liebe Worte besonders willkommen. Euren Bubi würden wir auch gerne kennen. Es ist erstaunlich, wieviel Zuneigung auch von einem Vogel kommt, gelt. Er belebt Euren Alltag und bringt Euch bestimmt oft zum Lachen. Danke Dir auch für die Karte aus dem Stubaital. Am liebsten wären wir Euch nachgereist! Das Grand Palace Hotel in Riga ist wirklich empfehlenswert. Wir haben uns, wie Du vermutest, sehr wohl gefühlt da. Ausserdem liegt es sehr zentral – man ist sozusagen im Stadtzentrum, aber in einem stillen, kleinen Gässlein. Habt sonnige Sommertage, möglichst ohne übermässige Hitze oder zerstörerische Gewitter. Ganz liebe Grüsse an Euch zwei, Elisa 🧡💛💚💙
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