Seidenfaden…

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Während der ersten Ehejahre lebten meines Vaters Eltern hoch oben im Dachgeschoss einer imposanten Häuserzeile. Im Erdgeschoss befand sich das Coiffeurgeschäft Schwarz. Der Herren-Coiffeur handelte nebenbei mit Knallfröschen und anderem Feuerwerk. Solch branchenfremde Nebengeschäfte waren damals durchaus üblich.

An diesem Morgen Ende Februar 1912 hantierte ein Kunde, in der einen Hand eine brennende Zigarre, in der anderen einen Knallfrosch, so ungeschickt mit dem begehrten Artikel, dass nicht nur dieser explodierte, sondern in der darauffolgenden Panik der ganze Schrank, in dem eine geballte Ladung Knallfrösche lagerte. Ohrenbetäubend machten die Frösche ihrem Namen alle Ehre, und blitzartig setzte die Explosion das Haus von unten her in Brand, frass sich mit Flammen und Rauch durchs Treppenhaus hoch – während sich unten der lukrative Nebenverdienst von Herrn Schwarz buchstäblich in Luft auflöste. Verständlich, dass sich in der Folge im Coiffeurladen dramatische Szenen abspielten.

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Aber auch im Dachgeschoss kam es zu Angst und Verzweiflung. Meine Grossmutter war im vierten Monat schwanger. Weil es noch früh am Morgen war, hatte sie ihre vier Kinder bei sich, jedoch nicht ihren Mann. Hustend floh die älteste Tochter mit dem Kleinsten im Arm aufs steile Dach hinaus, ihr Mutter rannte kopflos hin und her, und durch Rauchschwaden keuchten und schrien hysterisch die übrigen Kinder. Glücklicherweise kam die Feuerwehr gerade noch rechtzeitig, um die Grossfamilie auf und unterm Dach zu retten. Der gaffenden Menschenmenge, die sich in Windeseile unten auf der Strasse gebildet hatte, wurde ein unterhaltsames Schauspiel geboten, besser als jeder Wanderzirkus es vermocht hätte.

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„Gottseidank konnten auch die Menschen aus den übrigen Wohnungen und dem Coiffeurgeschäft gerettet werden. Es lief nicht ohne ein paar Verletzungen ab, die aber nicht lebensgefährlich waren. Nur Coiffeur Schwarz zog sich bei seinen mutigen Rettungsversuchen schwerste Brandwunden zu,» erzählte mir meine Grossmutter viele, viele Jahre später. Und fuhr fort: «Ich fühlte mich danach nie mehr sicher in der Dachwohnung. Gottseidank konnten wir schliesslich in ein eigenes Haus umziehen, wo wir uns glücklicher fühlten.»

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Mein Schwager fand bei Recherchen zum Familien-Stammbaum unter anderem einen abgegriffenen Zeitungsbericht mit der Schilderung des Brandes. Darin hiess es, der bedauernswerte Coiffeur sei zwei Tage, nachdem sich sein Nebenverdienst endgültig verflüchtigt hatte, im Spital gestorben.

Als Jüngster kam mein Vater erst drei Jahre nach den dramatischen Ereignissen zur Welt. So kam es, dass ich meine Existenz letztendlich der tüchtigen Feuerwehr meines Heimatstädtchens verdanke.

Was zur Schlussfolgerung führt, dass unser Leben bereits lange vor unserer Geburt an einem seidenen Fädchen hängt…

Elisa, 13.01.2021

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10 Kommentare zu „Seidenfaden…

  1. Ooooooh ja, mitunter ist das seidene Fädchen so zart und filigran,
    wie ein Spinnenfaden.
    Und dennoch hält es so manches schwere Gewicht spielend leicht aus!
    Gottseidank… 🙂
    Danke für die schöne Geschichte, liebe Elisa – ich habe sie sehr gerne gelesen.
    Bis bald und viele Grüße Bea

    Gefällt 2 Personen

  2. Eine dramatische Geschichte, liebe Elisa. Die Zeiten mögen sich zwar geändert haben, jedoch leider nicht für alle.
    Der ’seidene Faden‘ erinnert mich an den in der Bibel beschriebenen ’silbernen Faden‘, der endgültig reißt, wenn das Leben zu Ende ist. Er sei die Verbindung von der ‚Überseele‘ zum Körper. Das ist auch ein Grund, weshalb ich kein Organspender bin.

    Vielen Dank für die bewegende Geschichte.
    Herzliche Grüße und bis bald
    Gisela

    Gefällt 3 Personen

    1. Liebe Gisela, ich hoffe, es geht Dir wieder besser! Danke vielmals für deine Zeilen. Das mit dem silbernen Faden habe ich gar nicht gewusst. Ich lerne immer wieder etwas von Dir. Glaubst Du, man sollte sich auch nicht kremieren lassen? Alles Liebe, herzlichst, Elisa

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      1. Guten Morgen Elisa, es ist noch früh, deshalb will ich Dir direkt antworten. Die kath. Kirche verbietet die Einäscherung, weil sie glaubt, dass der Körper bei der Auferstehung derselbe wie jetzt zu Lebzeiten sein wird. Ich glaube das nicht, sondern an Reinkarnation. Die meisten von uns waren schon einmal hier, als eine andere Person. Wichtig für mich ist, dass die Lebensenergie zurück zu Gott geht. Ob der Körper eingeäschert oder begraben wird, ist gleichgültig, wenn man bedenkt, dass man sich auf jeden Fall den Ur-Elementen zurückgeben wird. Ich werde mich auch kremieren lassen.
        Herzliche Grüße, Gisela

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      2. Liebe Gisela, danke vielmals für Deine interessanten Erläuterungen. Ich habe grosse Achtung vor Deinem grossen Wissen und freue mich über Deine Klugheit. Ich glaube nicht an die Reinkarnation, ich glaube „nur“ an Gott und Jesus Christus. Allerdings gibt es im christlichen Glauben so viele Varianten. Letzten Endes sind das unbedeutende Unterschiede und wahrscheinlich nicht so wichtig. Ich denke immer, dass Gott viel grösser ist als wir ihn uns vorstellen können. Sich an Gott festhalten, Liebe verschenken, Vertrauen haben – Dinge, wie Du sie befolgst, ist bestimmt das, was zählt! Ich wünsche Dir alles Liebe und einen frohen Sonntag. Herzlichst, Elisa

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      3. Liebe Elisa, ich glaube ’nur‘ an Gott 😅 und nenne es ‚Christliches Bewusstsein‘, in das wir ‚hineinwachsen‘ müssen…in mehreren Leben. Das ist meine Auffassung.
        Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag. Hier hat es zum ersten Mal geschneit.
        Herzliche Grüße von Gisela

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      4. Vielen Dank, liebe Gisela. Wir sind fast gleicher Meinung… Ich wünsche Dir einen gemütlichen Sonntag Abend. Bei uns hat es in den letzten Tage vor allem in der Ostschweiz geschneit, wie schon lange nicht mehr. Für manche war es sogar schwierig, am Freitag morgen aus dem Haus zu kommen. Hier in Bern haben wir nur wenig Schnee, dafür Eisglätte auf den Wegen. Winter… Ganz liebe Grüsse, Elisa

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  3. Eine dramatische Geschichte mit gutem Ausgang – jedenfalls für Deine Familie! Ein Cousin von mir befasst sich auch seit Jahren mit dem Familienstammbaum. Anfangs von mir etwas belächelt, schätze ich seine Aktivitäten mittlerweile und finde es hochinteressant, was er so herausfindet.
    Mit lieben Grüßen und meinen Wunsch für Dich und DEM MANN: “ Denke positiv und bleibe negativ!“ (das Wort negativ bezieht sich auf die aktuelle Coronasituation) verbleibt Ursula

    Gefällt 2 Personen

    1. Liebe Ursula, ja, wenn man nachforscht, kommen zum Teil ganz wunderliche Dinge über unsere Vorfahren zu Tage. Mein Grossvater hat zum Beispiel eine Damenbinden-Maschine erfunden. Obwohl die Frauen in unserer Familie die Binden mit Vorliebe benutzt haben, war dies gar nicht bekannt. Im Nachlass meines verstorbenen Vaters habe ich das Patent dann gefunden… Danke herzlich für Deinen Beitrag, der mir ein Lächeln entlockt hat. Alles Liebe aus der Schweiz Dir und Deinem Mann, Elisa

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