Gold wert

Das erste Mal in Indien! Die Erfüllung eines Traums! Doch bei unserer Ankunft in der Flughafenhalle in New Delhi knallte unerwartet die grelle indische Lebensart auf unser braves Schweizer Gemüt. Es wimmelte von Menschen, Menschen, Menschen, Menschen… der Lärm war schrill, die Hektik unbeschreiblich. Der Vertreter unseres Reisebüros erwartete uns ungeduldig und lotste uns in raschem Tempo mitten durch die Masse von Reisenden, Chauffeuren, Gepäckträgern, Dienstleistern, Hotelangestellten, Empfangskomitees, Zimmeranbietern und was weiss ich noch für Geschäftstüchtige. Wir fühlten uns überrumpelt, in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, mir schwindelte.  

Draussen wartete unser Taxi. Im Nu hatte der Fahrer das Gepäck im Kofferraum verstaut. Kaum waren die Türen hinter uns zugeschlagen, fuhr das Auto los und schlängelte sich durch das Tohuwabohu des indischen Strassenverkehrs, der nicht minder beängstigend war. Doch dann: die Oase, das schöne Hotel! Flink lud der Taxichauffeur unser Gepäck aus. Hotelangestellte nahmen sich der Koffer und Taschen an, während der Reisevertreter uns ins Hotel bugsierte, an der Rezeption die Formalitäten für uns erledigte und uns dann die Zimmer-Batches in die Hand drückte. Und weg war er, zack! – die Effizienz in Person!

Wir waren keine fünf Minuten im Zimmer, als das Gepäck gebracht wurde. Da erst stutzte ich. Wo war mein Handgepäck, das blaue Reiseköfferchen? Um Gottes Willen! Es war unverschlossen, und drin befanden sich die für die Reise unentbehrlichsten Dinge, neben dem Bargeld auch Medikamente und sämtliche Gutscheine, die wir für die gebuchte Reise benötigten. Der Portier wusste von nichts. Ich rief die Rezeption an. Ein paar Minuten später klopfte es. Draussen stand eine grosse, schöne Frau mit energischen Gesichtszügen. «Ich bin die stellvertretende Hoteldirektorin», sagte sie. «Was ist geschehen?» Nach meiner Schilderung ging sie ans Telefon neben dem Bett, wählte die Nummer des Reisevertreters, setzte ihn ins Bild. Mit wild klopfendem Herzen schnappte ich Gesprächsfetzen auf: «…unmöglich …nein! …nicht in unserem Hotel! …allein Ihre Verantwortung …wie? …völlig egal …zählt, was jetzt … sofort! …Auch das …mir egal … Äusserst dringend… Ihnen hoffentlich klar… absolut keine Zeit verlieren …bringen es hierher …unverzüglich! …» Ich war am Rande eines hysterischen Anfalls. Die Direktorin hängte auf, sah mich begütigend an: «Gehen Sie an den Hotelpool, bestellen Sie ein kühles Getränk auf Kosten des Hauses und entspannen Sie sich. Ich werde Sie sofort benachrichtigen, wenn das Köfferchen eintrifft. Wir finden es!»

Während der folgenden zwei Stunden sass ich wie ein Häuflein Elend am Pool. Obwohl doch auch er sich Sorgen machen musste, versuchte mich DER MANN zu trösten. Aber erst als die Direktorin mit dem Köfferchen erschien, lachte ich wieder und freute mich auf unsere Indien-Abenteuer. Ich fragte noch, wo es denn gewesen sei. «Es ist während rund eineinhalb Stunden im Kofferraum des Taxis durch ganz New Delhi gegondelt, zum Glück hat es kein Unbefugter entdeckt.» Dann sah sie mich ernst an: «Geben Sie ein so wichtiges Reisegepäck nie, aber auch gar nie aus der Hand, hüten Sie es wie einen Goldschatz!» Ich habe ihren Rat befolgt. Wie gut, gibt es auf der ganzen Welt tüchtige Frauen, die Gold wert sind! 

Elisabeth, 15.8.2019

8 Kommentare zu „Gold wert

  1. Deine hübsche Geschichte zeugt wie immer von erzählerischer Kraft und Intensität. Ein Thema für lange Gespräche über Reiseerfahrungen. Hast Du Dir einen Sari mitgebracht, liebe Elisa? Liebe Grüße Ursula

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    1. Leider nein, liebe Ursula. Denn: wo lässt er sich hier tragen? Hab’s schon versucht mit einer thailändischen Tracht und einem langen marokkanischen Kleid – sieht komisch aus an mir. Hast Du Dir einen Sari gekauft? Sie sind ja wunderschön, und im Gegensatz zu mir bist Du gross und schlank. Herzlichen Dank für Deinen wie immer liebevollen Kommentar. Melde mich bald einmal. Herzlichst, Elisa

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