Kleider machen Leute

In den Jahren, in denen ich Personal an Firmen vermittelte, erlebte ich so manches, leider auch absolute «Don’ts». Es war eine äusserst vielseitige Aufgabe, die mir indes einiges abforderte. Verwundert hat mich, wie wenig Ahnung manche Stellensuchende von einer vorteilhaften Präsentation ihrer selbst hatten. Unter diesen gab es die ganze Palette: bluffende, lügende, arrogante, mürrische oder unterwürfige Menschen; Leute, die vergessen hatten, sich vor dem Gespräch zu duschen; solche, die kräftig gegen ihren jetzigen Chef vom Leder zogen; es gab den Bankangestellten, der viel Geld unterschlagen hatte und es erfolglos zu verschleiern suchte; den Informatiker, der von seiner zukünftigen Firma täglich gratis Kaffee und Croissants erwartete; den entlassenen Strafgefangenen, der seine schillernde Vergangenheit verschwieg… Oder die blonde, perfekt gestylte Lady mit der Alkoholfahne, die per Taxi anreiste, morgens um 10 bereits nicht mehr (oder noch nicht) nüchtern war. In diesen Fällen «wusch ich dem einen oder anderen den Kopf» und dachte seufzend, es wäre einfacher, mit Produkten als mit Menschen zu arbeiten.

Natürlich erfuhr ich auf Kundenseite ebenfalls Unrühmliches. Ich erinnere mich an den Personalchef, der seinem Golffreund gegenüber das Gebot der Verschwiegenheit missachtete, die in seiner Position vorausgesetzt wird; oder an den Chef, der das von ihm selbst verfasste Zeugnis am Telefon in allen wichtigen Punkten widerrief. Der nichtsahnende Mitarbeiter hatte lobend von ihm gesprochen und ihn als vertrauenswürdige Auskunftsperson genannt!

Misserfolge waren demoralisierend, grossartige Erfolge wirkten euphorisierend. Eher den Normalfall spiegeln folgende zwei Begebenheiten:

Ein Studienabgänger mit exzellenten Noten, aus einer angesehenen, alteingesessenen Familie stammend, wovon weder er noch ich bei der Stellensuche Gebrauch machten, hatte den Wunsch, in einer Bank zu arbeiten. Ein Termin bei einem Institut in der Agglomeration kam rasch zustande und ich begleitete ihn. Wie nicht anders erwartet, machte er während des Vorstellungsgesprächs eine sehr gute Figur. Umso enttäuschter war ich, als am Tag darauf eine telefonische Absage der Bankfiliale kam. «Warum?» fragte ich den Chef. «Er hat einen ungepflegten Eindruck hinterlassen.» «Das verstehe ich jetzt nicht», insistierte ich. «Ich fand ihn sogar sehr gepflegt.» «Ja, aber er hat anstelle eines Anzugs mit Hemd und Krawatte eine Lederjacke getragen. Das geht bei uns gar nicht.» Na toll! Machen Kleider tatsächlich Leute? Vielleicht nur engstirnige?  

Bei einem der nächsten Kandidaten ging es um eine Stelle in einer aufstrebenden Informatikfirma. Es war ein heisser Sommertag, doch – eingedenk der «Bank»-Erfahrungen – hatte ich dem betreffenden jungen Mann empfohlen, in Anzug und Krawatte zu erscheinen. Ich selbst hatte mich ebenfalls «in Schale geworfen». Uns beiden rann der Schweiss übers Gesicht, mein elegantes Kleid klebte wie Zuckerwatte auf meiner Haut, als wir das Haus betraten, in dem das kleine Unternehmen seinen Sitz hatte. Im Hauseingang trafen wir auf einen barfüssigen Mann in Shorts, der mit dem Schleppen einer Kiste Mineralwasser beschäftigt war. «Wohl der Hauswart,» dachte ich und wollte vorbeigehen. (Ist eben auch in meinem Kopf gespeichert: Kleider machen Leute!) Der Mann sah auf und fragte: «Sind Sie die Personalberaterin? Ich bin der Chef hier und komme gleich nach oben zum Interview. Gehen Sie unterdessen vor.» Autsch, schon wieder falsches Outfit! Oder doch nicht? Auch Charakter macht Leute. Und Freundlichkeit kleidet bestimmt besser als der teuerste Stoff. Das erfuhren wir im nachfolgenden Gespräch, das professionell und in herzlicher Atmosphäre verlief.

Es ist kaum anzunehmen, dass Ihr an Hundstagen barfuss an ein Vorstellungsgespräch geht und Euch in den angebotenen Sessel fläzt… Was indessen zumindest eine Überlegung wert ist (und was ich mich erstaunlicherweise früher kaum je gefragt habe): Bei welchen Menschen fühle ich mich rundum wohl?

9 Kommentare zu „Kleider machen Leute

  1. Wieder eine schöne Geschichte zum Feierabend liebe Elisa! Ja, es ist so das man sich nicht nur von Äußerlichkeiten leiten lassen soll, wenn es um die Beurteilung eines Menschen geht. Diese Erfahrung mussten wir wohl alle schon einmal machen. Liebe Grüße Ursula

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