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DER MANN und ich lieben Frankreich, die Provence im Besonderen. Kein Wunder, oder? Euch geht es bestimmt ähnlich. Wenn ich an die herrliche Gegend denke, erstehen in meinem Kopf Bilder von rotglühenden Mohnfeldern, stolzen Oleanderbüschen, vom allgegenwärtigen weichen Licht, das die Maler so begeistert – und ich rieche das frische Parfum der zahlreichen Lavendelfelder. Aber in jenem Frühling hatten wir Wetterpech. Es regnete beinahe eine Woche durch, es war ungewohnt kühl.
Auf der Hin- und der Rückreise nahmen wir uns Zeit. Den Pont-d’Arc wollten wir auf der Heimfahrt trotz Regen sehen. Von Aiguèze führt eine Hängebrücke über die Ardèche-Schlucht nach dem kleinen Ort St-Martin d’Ardèche. Gleich am Ende der Brücke entdeckten wir ein kleines Hotel, wo wir nach einem Zimmer fragten. Während des Auspackens brachte mich eine unangenehme Feuchtigkeit, die an eine Gruft erinnerte, zum Frösteln – aber es war ja nur für eine Nacht.
Unvermittelt riss die schwere Wolkendecke auf. Sonnenstrahlen tauchten die Landschaft in goldenes Licht. Rasch, freudig, verliessen wir die Pension für einen Erkundungsspaziergang und liessen uns von der unerwarteten Wärme umschmeicheln. Am Ortsrand gelangten wir zu grünen Wiesen und knorrigen Rebstöcken. Es war ruhig und friedlich, und doch fühlte ich mich unruhig. Der Ort gefiel mir nicht. Wenn ich nur wüsste, weshalb? Dann, schlagartig, ballten sich die fetten Wolken wieder zusammen. Nicht nur der tiefschwarze Himmel, auch die Landschaft nahm jäh ein unheilvolles, ja bedrohliches Aussehen an.
Wir kehrten sofort um, denn blöderweise hatten wir den Schirm im Hotel gelassen. Als wir das Dorf im Laufschritt erreichten, öffnete ein krachender Wolkenbruch seine Schleusen. Wir schafften es gerade noch in eine kleine Boutique. Anständigerweise sah ich mich darin um und probierte ein paar Kleidungsstücke. Als der Regen nach etwa 20 Minuten nachliess, verabschiedeten wir uns von der freundlichen Verkäuferin, ich mit einer neuen Bluse unter dem Arm.
DER MANN murmelte gerade etwas über die nie versiegende Kauflust der Frauen, als wir mit einem Mal vor einer Polizeiabsperrung standen und es uns rasch klar wurde, dass wir nicht in unsere Pension zurückkehren konnten. Wir kletterten zusammen mit einer Menschengruppe auf eine erhöhte Restaurant-Terrasse und harrten der Dinge, die da kommen würden. Überall schauten Einheimische aus den Fenstern oder säumten hinter Absperrungen die Passagen. Eine überreizte Stimmung beherrschte das Dorf. «Was ist da los?» fragte ich eine neben mir stehende Frau. «Sie kommen heute aus Paris für die Nachstellung eines Verbrechens. Es sind sechs Jugendliche aus unserem Dorf, die sie nach Monaten im Gefängnis heute hierher bringen, um den genauen Ablauf zu ermitteln.» «Was haben die Jungen denn verbrochen?» «Ach, sie haben sich an einem Abend im letzten Sommer im Dorf volllaufen lassen und mit einem älteren Mann, der in einem Camper am Ufer wohnte, weitergesoffen. Gegen Mitternacht haben sie ihn erschlagen, man weiss nicht weshalb. Ein Jammer, sie sind ja noch so jung! Schauen Sie, dort unten am gegenüberliegenden Ufer passierte es», erklärte sie noch, bevor sie sich abwandte. War sie etwa eine der unglücklichen Mütter, die jetzt hilflos, vor aller Augen, zuschauen musste? Mich schauderte.
Eine Bewegung ging durch die Gruppe: Ein Konvoi mit sechs schwarzen Limousinen erschien und kroch in aufreizender Langsamkeit über die Hängebrücke. In jeder sassen ausser dem Chauffeur ein Polizist und einer der jugendlichen Täter. Es war ganz still im Dorf, als sie ausstiegen. Jeder Polizist schubste und zerrte brutal einen stolpernden Jugendlichen an Handschellen neben sich her, während sie nacheinander in einige Kneipen auf der anderen Strassenseite hineingingen, um die zurückliegenden Saufszenen gedanklich aufleben zu lassen. Nach dreiviertel Stunden war der Spuk vorbei und der Zugang zum Hotel wieder offen, während der Konvoi vis-à-vis zum sandigen Ufer der Ardèche hinuntergefahren war. Wir wollten nicht länger zuschauen. Mich beschäftigten die düsteren Bilder noch geraume Zeit. Ich konnte weder dem Abendessen, noch dem durch eine Wolkenbank leuchtenden Sonnenuntergang etwas abgewinnen.
Schlaf fand ich in dieser Nacht auch nicht.
Elisabeth, 23.7.2019
Wie eng doch das Schöne und Furchtbare beieinanderliegen können. Wohl denen, welche so etwas nie so hautnah erleben müssen.
Bewahren wir uns trotz alledem das Schöne im Herzen liebe Elisa!
Herzlichst Ursula
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Ja, Du hast Recht, liebe Ursula, das Schöne überwiegt, und daran zu glauben, ist unerlässlich. Dennoch spiegeln meine Geschichten auch Negatives – es sind aber immer Momentaufnahmen aus meinem Leben. Zum Glück! Zumindest dann, wenn’s weniger gute Erfahrungen sind. Ich danke Dir für Deinen wertvollen Kommentar. Liebe Grüsse, Elisa
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Liebe Elisabeth, ich schließe mich dem Kommentar von Ursula an, denn selbige Gedanken hatte ich auch beim Lesen des Textes. Hinzufügen möchte ich jedoch noch, dass es immer wieder ein Genuss ist, deine Texte zu lesen!
Und die schönsten Mohnfelder sah ich bislang auch in Frankreich.:-) Ganz liebe Grüße Bea
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Liebe Bea, Deine ermutigenden Worte haben mich riesig gefreut. Ich bin natürlich froh, wenn meine Beiträge Gedanken, noch besser wohltuende Bilder auslösen. Mohnblüten sind nur auf dem Feld ein toller Anblick – und das ist gut so, sind sie doch ein eindrückliches Beispiel davon, wie flüchtig und vergänglich Schönheit ist. In diesem Sinn gilt: Carpe Diem. Ich wünsche Dir viele blühende Blumenfelder. Ganz liebe Grüsse, Elisa
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