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Meine demente Freundin ist nun 97½ Jahre alt. Seit sie mehrmals in der Nacht gestürzt ist und sich verletzt hat, ist sie spürbar schwächer geworden. Letzte Woche besuchte ich sie erneut im Pflegeheim. Es war gerade das Ende einer Vorlesestunde. Ich wartete in der Cafeteria, bis eine Pflegerin sie im Rollstuhl zu meinem Tisch brachte, zusammen mit einer Tasse Milchkaffee und einem appetitlichen Stück Kuchen. Meine Freundin reagierte nicht auf meine Begrüssung. Sie hatte die Augen fest geschlossen und sass einfach da. So ging das mehr als eine Viertelstunde. Ich hielt ihr still die Hand. Wo war die lebenslustige, einfühlsame, vor Energie und Witz sprühende Frau von früher geblieben? Während ich das bleiche, bewegungslose Gesicht betrachtete, das etwas Entrücktes hatte, musste ich plötzlich heulen. Es sah aus, als sei sie geradewegs auf dem Weg in eine andere Welt. In diesem hohen Alter wäre dies beileibe nicht erstaunlich. Dennoch stieg eine grosse Trauer in mir auf, die Tränen liefen mir unaufhörlich über die Wangen. «Mir geht es fast gleich wie Ihnen, wenn ich sie anschaue», sagte eine am Buffet arbeitende Frau verständnisvoll und brachte mir Servietten, um mein Gesicht zu trocknen.
Wie auf Kommando öffnete meine Freundin die Augen. Sie schaute aber nicht etwa mich an, sondern den Kaffee, dessen Duft sie wahrscheinlich wachgeküsst hatte. Langsam, genüsslich, trank sie die Tasse leer und ass den Kuchen bis zum letzten Bröckchen. Erst als ich die Krümel aus ihren Mundwinkeln, an ihren Fingern und von ihrem Schoss wegwischte, nahm sie mich wahr. Sachte begann ich mit ihr zu sprechen, entlockte ihr gar das eine oder andere Schmunzeln. Die Aufmerksamkeit dauerte jedoch nicht lange. Bald wurden ihre Augenlider wieder schwer. Sie wollte sich denn auch schlafen legen, mitten im Nachmittag. Als die Pflegerin sie vom Rollstuhl aufhob, damit sie sich etwas bewegte und die Strecke vom 1. in den 6. Stock mit Rollator und Lift bewältigte, wirkte sie sehr schwach, zerbrechlich und desorientiert. Dann sass sie in ihrem Zimmer auf dem Bett. Ich beugte ich mich nieder, um mich zu verabschieden. Unvermittelt sah sie zu mir hoch. Ihre Augen strahlten, als sie klar und deutlich sagte: «Ich danke dir für deinen Besuch. Ich habe mich sehr gefreut.»
Auf dem Nachhauseweg wurde mir einmal mehr bewusst, dass man einen nahestehenden Menschen nicht weniger liebt, wenn er alt, gebrechlich oder dement geworden ist. Im Gegenteil, die Hinfälligkeit des anderen weckt vermehrt Fürsorge. Vor allem aber erkennt man hinter dem Schleier der Krankheit nach wie vor die Persönlichkeit, die sie einmal war – eine Persönlichkeit, die nicht ausgelöscht ist, die nur irgendwo in einem entlegenen Seelenwinkel schlummert, aus dem gute Gefühle jederzeit wieder auftauchen können.
Die Liebe ist das Zärtlichste und Schönste, das uns ein liebender Gott für einen vertrauensvollen Gang auf dieser Erde mitgegeben hat. Sagt, ist das nicht ein grosser Trost für uns alle?
Elisabeth, 16.7.2019
Ja, ist es. danke für diesen berührenden Bericht 🙂
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Liebe Brig, ich danke Dir herzlich für Deinen Beitrag. Es geht mir wie Dir, man gewinnt mit dem Bloggen neue Freunde. Schön, nicht? Liebe Grüsse Elisa
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Ja, das ist sehr tröstlich – auch wenn das Thema alles andere als einfach ist….. mir lief gerade beim Lesen auch eine Träne die Wange hinunter.
Liebe Grüße Bea und danke für den anrührenden Text!
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Liebe Bea, Dein Kommentar hat auch mich angerührt. Ganz herzlichen Dank dafür und liebe Grüsse, Elisa
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So eine liebevolle Freundin, wie Du es bist, ist Gold wert!
LG Ursula
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Liebe Ursula,
Du bist ebenfalls eine liebevolle Freundin! Deine liebe Post möchte ich niemals missen. Danke vielmals für Deinen Kommentar. Herzlichst, Elisa
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