Gelassenheit

Es fällt uns allen schwer, glaube ich, glückliche Momente loszulassen; zu akzeptieren, dass sie in einem Husch vorbei sind. Aber was wäre, wenn die Zeit stillstehen würde – nicht nur mit den besonderen, sondern auch mit den bangen Momenten? Fänden wir daran Gefallen?

In den Achtzigerjahren liess ich mich dazu überreden, während meiner eigenen Ferien an einer englischen Privatschule drei Wochen lang französischen Kindern zwischen 10 und 16 Jahren Grundkenntnisse in Englisch beizubringen. Wir waren fünf Lehrkräfte, vorwiegend aus England. War das ein Abenteuer! Zu Beginn bekamen wir einen Tag lang ein Coaching durch einen Teacher Trainer, das Spass machte. Dafür gab es an der Schule kein Unterrichtsmaterial und kaum Unterhaltungsmöglichkeiten; wir mussten zum Beispiel auch mit einem ständig betrunkenen Koch, zugig-feuchten Schulungs- und Wohnräumen sowie einer altmodischen Infrastruktur klarkommen. Zum Glück hatte ich englische Spiele und eigenes Unterrichtsmaterial mitgebracht.

Neben unserer morgendlichen Arbeit als English Teachers oblag uns auch die Betreuung der Kinder in ihrer Freizeit, ihre Bedienung bei Tisch, das Waschen ihrer Kleider, das Bemuttern der Heimwehkranken, das Vertuschen von Bettnässen, das Verhindern frühreifer Liebeleien, die Pflege Fieberkranker. Wir organisierten ein Kostümfest, eine Schülerzeitung, nachmittägliche Sportwettkämpfe; wir buken Cookies, probten für eine Fernsehsendung, gingen per Bus in einer Kleinstadt shoppen (der absolute Renner bei den Halbwüchsigen), malten mit einem kümmerlichen Rest gefundener Farben ein Wandgemälde – kurz, das Ganze entpuppte sich als eine abwechslungsreiche aber sehr anspruchsvolle Aufgabe. Wer je mit einer Schar Halbwüchsiger in einem Lager war, weiss, wovon ich rede.  Das Gute daran: Ich hätte nie gedacht, dass ich über so viele eigene Ressourcen, Kräfte und Ideen verfüge.  

Meist reichte es uns zur Lehrerbesprechung erst nachts um elf. Ebenfalls kräftezehrend waren die beiden Ausflüge gegen Ende der drei Wochen, einer nach Brighton ans Meer, einer nach London. Jedes vom Leiterteam hatte die Verantwortung für 11 Kinder.

Brighton verlief wider Erwarten gut. Die fünfundfünfzig Mädchen und Buben freuten sich am Meer und an der Vergnügungs-Mole. In London ging’s harziger, was jedoch nicht an den Kindern lag. Am frühen Nachmittag hatten wir im Touristenstrom bereits einige Sehenswürdigkeiten besucht, aber dann vermissten wir zwei Elfjährige, die allein natürlich verloren sein würden.

Ich hatte sie gerade weinend mitten im Verkehr bei der Westminster Abbey wiedergefunden und zurückgebracht, als der Ire Murray und ich realisierten, dass wir beide alleine waren mit den 55 Kindern! Wo waren die übrigen drei Lehrkräfte? Na ja, die beiden Verliebten, von denen der Mann in London ein Studio hatte, gönnten sich mit Sicherheit ein entspanntes Schäferstündchen, während wir… Murray und ich beschafften Getränke für alle und setzten uns mit den Kindern erschöpft in den Schatten. Ich war nervös, ich war besorgt. Da legte Murray aufmunternd seine Hand auf meinen Arm und sagte: «Elizabeth, sag dir in verzwickten Situationen stets: Auch das geht vorbei.» Banal, gewiss, aber wie wirkungsvoll! Am Abend kehrten wir mit den 55 Kindern heil nach Südengland zurück, und das Lehrerteam war beim Nachtessen ebenfalls wieder vollständig.

Ich bin kein Ausbund an Gelassenheit. Wohl deshalb begleitet mich Murray’s Rat bis heute. In einer aufreibenden Situation daran zu denken, wirkt Wunder. Er bricht meiner aufkeimenden Panik und dem Stress die Spitze und lenkt mich von unnötigem Vorschuss-Kummer ab. Danke, lieber Murray!

Elisabeth, 10.7.2019         

6 Kommentare zu „Gelassenheit

  1. wunderbar, wenn solche ermutigenden Worte einfahren und jederzeit abrufbar sind. Ich bekam auch mal so ein Wort zugesprochen, als ich mich nicht entscheiden konnte: Das chunnt guet! Ich benütze es seitdem oft, auch um andere in gewissen Situationen zu ermutigen.

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  2. Wieder eine soooo schöne Geschichte – du hast eine Art zu schreiben, die den Leser zum direkten Zuschauer macht und an den Geschichten teilhaben lässt, als wäre man dabei gewesen! Toll 🙂
    Ganz liebe Grüße Bea

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  3. Eine schöne Geschichte mit Substanz hinsichlich Alltagsbewätigung und Lebenseinstellung. Mein Mann sagt mir immer“ Das Glas ist halb voll!“ (und nicht halb leer) oder ich wünsche mir manchmal“ eine Haut wie die eines Elefanten“ zu haben..im Sinne einer Gelassenheit. Mit anderen Worten ausgedrückt: Diese zu besitzen bzw. zu erreichen, ist sehr hilfreich, aber oft leichter gesagt als getan. Deine Erlebnisse, die sooooo vielschichtig sind, vermitteln auch immer ein Stück Lebensweisheit. Dafür danke und liebe Grüße Ursula

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    1. Liebe Ursula, herzlichen Dank für Deinen lieben Beitrag. Auch Du hast viel erlebt und besitzst Lebensweisheit. Das macht vieles leichter. Anderseits bin ich froh, dass das Leben Anforderungen an uns stellt. Das hält uns lebendig, oder nicht? Liebe Grüsse, Elisa

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