Vielmännerei

Ich war im Bus unterwegs, als sie zustieg. Wir erkannten einander auf Anhieb, obwohl wir uns schätzungsweise mehr als 25 Jahren nicht mehr gesehen hatten. Dabei kam mir in den Sinn, dass sie damals neben ihrem Beruf als Pflegefachfrau ein persönliches Hilfswerk für Ladakh am Laufen hielt, indem sie in der Schweiz ihre beeindruckenden Portraitfotos von Bergland-Bewohnern sowie handgemachte Produkte aus Ladakh verkaufte. Den Erlös brachte sie ins Land zurück, um die dortige Armut zu lindern. Dafür hatte ich sie immer bewundert.  

Ladakh hat eine überaus wechselvolle Geschichte. Einst ein unabhängiges Königreich, dann erobert von den Tibetern und anderen Völkern, gehört es seit der Unabhängigkeit Indiens zu Jammu und Kaschmir im äussersten Norden des indischen Subkontinents. Auf das mehrheitlich von der tibetischen Kultur geprägte Land haben zentralasiatische und indische Einflüsse ebenfalls eingewirkt. Das Bergland zwischen den Gebirgsketten des Himalayas hat ein raues, trockenes Klima, in dem sowohl mit extremer Kälte als auch mit Hitze zu rechnen ist. Auf kurze heisse Sommer folgen lange, grausam kalte Winter. Da die Dörfer zwischen 3’000 und 4’000m hoch liegen, ist das Leben kräftezehrend. Zweifellos gründet das folgende ladakhische Sprichwort in langjähriger Erfahrung: „Wenn ein Tal nur über einen hohen Pass zu erreichen ist, kommen lediglich gute Freunde – oder schlimme Feinde.“

Vor Jahren besuchte ich im Völkerkundemuseum eine fesselnde Ausstellung über Ladakh. Was mich damals wie heute fasziniert, ist die Tradition der «Fraternalen Polyandrie», der Vielmännerei. Ein paar Brüder heiraten die gleiche Frau (und nicht etwa umgekehrt!) Mit einem Schmunzeln erinnere ich mich an einen kurzen Film, in welchem ein Paar Männerschuhe zu sehen waren, die vor dem Frauen-Schlafzimmer standen. Der Kommentar dazu lautete, die Schuhe seien ein Signal an die übrigen Männer im Haus, dass das Ehe-Bett besetzt sei. Eine andere Szene zeigte eine lachende Frau bei der Feldarbeit. Während sie keck in die Kamera blickte, lugte der Mann scheu hinter ihrem Rücken hervor. Mir fiel auf, wie selbstsicher und selbstbestimmt die Frauen im gebirgigen Land ihrer harten Arbeit nachgingen.

Indien hat die Polyandrie in Ladakh zwar verboten, dennoch liess sie sich nicht völlig ausrotten; namentlich in den kleinen Dörfern wird sie nach wie vor praktiziert. Aber weshalb dieser Brauch, an dem hartnäckig festgehalten wird? Hat’s dort besonders viele hübsche Männer und nicht genug Frauen, oder ist’s einfach eine frauenfreundliche Idee? Falsch gedacht… Es liegt auf der Hand, dass bei einer Frau, selbst wenn sie drei oder vier Männer hat, pro Jahr nur eine Schwangerschaft möglich ist. Ein Mann hingegen kann zusammen mit mehreren Frauen mehrere Kinder zeugen. Dies gilt es zu verhindern – ist doch Ladakh ein äusserst karges Land und besitzt nur wenige fruchtbare Gebiete, denen man in den kurzen Sommermonaten die Nahrung abringen muss. Wie also gelingt es, die Ernten anzugleichen? Indem man die Bevölkerungszahl niedrig hält, Landreserven nicht unablässig teilt und das Arbeitskraftpotential an die knappen Landressourcen anpasst. So gesehen, ist die Polyandrie die geniale ökonomische Lösung!

Der Lauf der Welt bleibt jedoch nirgendwo stehen. Die Jugend besitzt erneuernde Kraft und ringt um ihren eigenen Weg, während die Alten die Traditionen zu bewahren suchen. In einer lebendigen Gesellschaft braucht es beides – auf diese Weise entsteht aus erprobten Wurzeln Neues. Auf die Entwicklung in Ladakh kann man gespannt sein. Junge Männer leben heutzutage lieber monogam und in der Stadt. Vielleicht begrüssen die modernen Frauen den Kulturwechsel ebenfalls? Für sie, denke ich, vervielfacht sich beim Brauch der Vielmännerei nicht nur die Freude – garantiert häufen sich auch die Pflichten! Man stelle sich vor: Die Ehefrau muss z.B. bei Krankheiten nicht nur einen, sondern zwei, drei oder gar vier Männer pflegen…

«Gehst du immer noch regelmässig nach Ladakh?» fragte ich meine Bekannte. «Ja», antwortete sie, «denn ich habe viele liebe Freunde dort.» «Hat’s da, wo sie leben, auch noch Vielmännerei?» erkundigte ich mich weiter. «Ja natürlich, aber heutzutage gibt es auch andere Eheformen. In Bezug auf den Ehestand sind die Ladakhis sehr pragmatisch. Wie sie die Sache handhaben, kommt ganz auf die Situation an.» Da meine Bekannte nur wenig jünger ist als ich, beschäftigte mich ein weiterer Punkt: «Ist das Leben in Ladakh inzwischen nicht beschwerlich geworden für dich?» «Doch», erwiderte sie mit einem Lächeln. Weisst Du, es kann nachts bis zu 30 Grad minus werden, und Heizungen gibt es nicht. Früher machte es mir nichts aus, auf dem kalten Boden zu schlafen, heute habe ich Mühe damit. Ausserdem macht mir auf einmal, im Gegensatz zu vorher, die fehlende Hygiene zu schaffen. Manchmal muss ich mich beim Essen sogar überwinden. Im letzten Jahr wurde ich schwer krank. Sie umsorgten mich liebevoll. Da aber die Wege wegen Schnee und Eis nicht passierbar waren, konnten sie mich erst eine Woche später in lamentablem Zustand in ein Spital bringen. Als ich Gottseidank wieder gesund geworden war, fragte ich meine Freunde: ‘Wenn ich gestorben wäre, was wäre schlimmer gewesen für euch: Mich zu verlieren? Oder kein Geld aus der Schweiz mehr zu erhalten?’ Sie drucksten ein bisschen herum, dann sagten sie mit entwaffnender Ehrlichkeit: ‘Beides. Wir haben für dich und fürs Geld gebetet.’»  

Elisabeth, 5.6.2019

6 Kommentare zu „Vielmännerei

  1. Yup! Vielmännerei ist zu begrüßen. Nicht nur der Abwechslung wegen: Hier bei uns käme reichlich Geld in den Haushalt, frau muss nie mehr Möbel rücken oder Kisten schleppen, und wenn die Kerls krank werden, bekommt man ab vier Personen eine Pflege-WG bezuschusst🙂

    Gefällt 2 Personen

  2. Wow, liebe Elisabeth, Deine Geschichten sind nicht nur interessant, spritzig und inspirierend, sondern diesmal mit der Erläuterung der „Vielmännerei“ darüberhinaus eine echte Bereicherung des Allgemeinwissens!
    Gleichfalls mit dem „Frauenstreiktag“, die Schweiz überrascht mich immer wieder aufs Neue.
    Liebe Grüße
    Ursula

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe Ursula, herzlichen Dank für Deinen tollen Kommentar. Ja doch, die Vielmännerei wäre eigentlich eine bestechende Idee, selbst in der braven Schweiz. Doch wenn ich dran denke, dass es in Ladakh nicht um die Liebe geht, sondern um rein praktische Überlegungen – nimmt das dem schönen Gedanken etwas von seinem Glanz!! Findest Du nicht auch? Liebe Grüsse, Elisa

      Gefällt 1 Person

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