
Im Büro nannten sie alle «Mademoiselle Georges», und nicht «Madame Georges», obwohl sie ein Kind hatte. Wir waren im Korrespondenzdienst sechs Frauen. Auf relativ engem Raum arbeiteten wir zusammen, mal besser, mal schlechter, denn Missgunst und Tratsch waren nie weit. Der Sitz des Versicherungsmaklers lag auf zwei Etagen in einer ruhigen Quartierstrasse in Paris, in der Nähe des Parc Monceau. Alain Delon hatte gleich vis-à-vis ein kleines Appartement, das er zu unserem Leidwesen höchst selten aufsuchte.
Das Foto, das Mademoiselle Georges mir, kaum war ich angekommen, von ihrem kleinen Nicolas unter die Nase hielt, zeigte einen hübschen, kraushaarigen, etwa 7jährigen Jungen. «Von einem Marokkaner», erklärte sie stolz. Dann glitt ein Schatten über ihr Gesicht. «Ich weiss nicht, wo der Mann inzwischen lebt. Er ging weg, als ich schwanger war.»
Sie war in der Bretagne aufgewachsen, ihre Mutter früh verstorben. Ihr Vater, inzwischen alt und gichtgeplagt, war dort Landarzt gewesen. Auch von ihr gab’s ein Foto, ein früheres: Eine schöne junge Frau. Jetzt trug sie eine hässliche Brille mit dicken Gläsern und hatte strähniges Haar, das sie von Zeit zu Zeit selber stutzte. Einst hochgewachsen und schlank, war sie nunmehr in die Breite gegangen. Die Kleider, die sie auf dem Flohmarkt kaufte, standen ihr nie, obwohl sie sie immer voller Freude im Büro vorführte. Mit Stolz präsentierte sie vom «Marché aux Puces» auch ein Kästchen mit Lippenstift-Muster, wie man sie damals im Warenhaus sah, als Hilfe für die Wahl des richtigen Farbtons. «Von Dior», strahlte sie und wies auf die 15 unappetitlichen Stummel hin. In der Folge schmierte sie sich jeden Tag eine neue Farbe auf die Lippen, ob sie ihr nun stand oder nicht – Hauptsache «von Dior».
Die Kolleginnen belächelten sie. Ich mochte sie. Gewiss, sie besass einiges an Naivität und Gutgläubigkeit, das merkte selbst ich unerfahrenes junges Ding aus einer Schweizer Kleinstadt. Doch sie war die Freundlichkeit in Person, und die Art, wie sie dem Leben und ihrer offensichtlichen Armut mit einem Lächeln trotzte, hatte etwas Berührendes.
«Les Halles», dieser seit dem 12. Jahrhundert bestehende, legendäre Grossmarkt Frankreichs mitten im Herzen der Stadt, existierte 1964 noch am alten Standort. Er war fest mit dem Quartier verwachsen und ein unvergleichlicher Ort, dem der Ruf des quirlig-bunten Besonderen, aber auch des gefährlich Verruchten anhing. Zum Leidwesen vieler wurden «Les Halles» 1970 abgebrochen und in die Peripherie verlegt. Dabei sollen Heere von aufgescheuchten Ratten das Weite gesucht und die prekären Hygieneverhältnisse in aller Deutlichkeit sichtbar gemacht haben. Ob die Nager wohl ebenfalls in die Peripherie umzogen?
Einerlei. In jenem Sommer, als ich mein einjähriges Büropraktikum absolvierte, hatte Mademoiselle Georges einen, wie sie glaubte, zündenden Einfall: Sie würde für ihre Kolleginnen und Kollegen frühmorgens auf dem Markt Früchte und Beeren holen und sie im Büro gegen ein kleines Aufgeld weiterverkaufen. Es war ein schöner, heisser Sommer. Mademoiselle Georges radelte jeden Morgen vor Arbeitsbeginn durch die halbe Stadt und zurück, durch Verkehr, Gestank und aufkommende Hitze, und kam mit einer kleinen Kiste auf dem Gepäckträger um 9 Uhr im Büro an. Durch die holprige Fahrt über Pflastersteine hatten die empfindlichen Früchte bereits gelitten. Gut möglich, dass sie in «Les Halles» auch Früchte zweiter Wahl erstanden hatte. Der Lauf der Dinge war vorauszusehen: Kaum jemand interessierte sich für den etwas lädierten Segen, und so blieben die meisten Körbchen bis am Abend in unserem Büro stehen, was ihrer Qualität nicht eben zugutekam. Sie liess sich nicht entmutigen. Unverdrossen ging sie von Zeit zu Zeit in beiden Stockwerken von Büro zu Büro, schnitt angeschlagene Pfirsiche in Schnitze und verteilte an jede und jeden mindestens einen Schnitz, während sie selbst einen ass und dabei mit einem verzückten «miam-miam» zur Decke schaute, um zum Kauf zu animieren. Ebenso verschenkte sie die besten Beeren aus den verschiedenen Körbchen und wartete gespannt auf die Reaktion. Doch wir assen damals lieber Schleckzeug wie Biskuits, Bonbons und «Mon Chéri», die wir bei einer anderen Kollegin kauften, die sich um Kundschaft nicht bemühen musste.
Manchmal, am Abend, bevor ich das Büro verliess, erbarmte ich mich und kaufte ein Körbchen mit zermantschten, halb verfaulten Früchten, das sie mir dankbar, wohl zum Schleuderpreis, überliess. In meinem Zimmer ass ich ohne grossen Appetit die wenigen noch essbaren Beeren und kippte den Rest in meinen Abfalleimer. Damit setzte ich mich regelmässig einem Donnerwetter meiner Zimmerwirtin aus, die mich eine Verschwenderin schalt und mich aufforderte, nur noch soviel zu kaufen, wie ich auch essen möge. Meinen Erklärungsversuchen schenkte sie keinen Glauben. Und so verlor Mademoiselle Georges schliesslich als Kundin auch mich.
In der Erinnerung steigt mir der faulige Beerengeruch, dem wir einen ganzen Sommer lang ausgesetzt waren, noch immer in die Nase. Mademoiselle Georges gab ihr Vorhaben erst auf, als kalte Herbstnebel über der Seinestadt aufzogen. Heute liebe ich Beeren über alles und bin jedes Mal betrübt, wenn die Saison der Sommerfrüchte zu Ende geht. Damals in Paris war ich froh darüber…
Elisabeth, 23.4.2019
Wie rührend! und wie schön, solche Erinnerungen zu haben!
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Ja, das stimmt, liebe Brigitte. Menschliche Kontakte bereichern uns oft mehr, als wir ahnen. Danke und liebe Grüsse, Elisabeth
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Liebe Elisabeth, danke für diese sehr gefühlvoll in Szene gesetzte Geschichte . Ich habe sie sehr gerne gelesen. 🙂 Sonnige Grüße Bea
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Vielen Dank, liebe Bea, das freut mich. Kommst Du voran mit Deinem Projekt? Liebe Grüsse Elisabeth
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Wieder eine so wunderbar von Dir verfasste und erlebte Geschichte! Erinnerungen sind eine Bereicherung unseres Lebens, man muss sie pflegen und erhalten.Danke, dass Du uns daran teilhaben lässt.
Eine schöne Leselektüre zum Abend! LG Ursula
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Liebe Ursula, wie immer, findest Du liebevolle Worte für mich. Ganz herzlichen Dank! Erinnerungen machen uns wirklich reich, sie können einem selbst über Krankheit oder sonstige schwere Zeiten hinweghelfen. Liebe Grüsse aus der Schweiz, Elisabeth
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