Brille: Fielmann.

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Die Beiständin meiner demenzkranken Freundin bittet mich, die betagte Frau zu Fielmann zu begleiten, um eine Brille zu besorgen. «Sie hat doch seit Jahrzehnten Linsenimplantate, schon seit ihrem schweren Unfall Anfang der Achtzigerjahre. Ich habe sie noch nie mit einer Brille gesehen», berichte ich der Beiständin. «Nun braucht sie aber eine Brille», beharrt diese. «Im Pflegeheim sagen sie, dass sie gar nichts mehr lesen kann. Ich schicke Ihnen das Rezept des Augenarztes. Bitte vergessen Sie nicht: Die Kostenlimite für Gläser und Gestell beträgt Fr. 200.»

Die Freundin ist ganz übermütig wegen des Ausflugs ins Stadtzentrum, während ich mir überlege, ob ich nicht vorher hätte anrufen sollen, um die Fielmann-Angestellten über die Demenzerkrankung ins Bild zu setzen. In Gegenwart meiner Freundin will ich die Krankheit natürlich nicht erwähnen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass die Demenz sicher sehr rasch erkannt werde. Mitnichten! Meiner teilnahmslos dasitzenden Freundin erklärt eine Optikerin anhand von komplizierten Tabellen die Art und Funktion von Gleitsichtbrillen, die Ursachen der Fehlsichtigkeit, die Dienstleistungen von Fielmann… Ich muss sie schliesslich unterbrechen. Der nächste Optiker gibt sich noch mehr Mühe. Nach längerem Hin und Her – nicht zuletzt auf Grund seiner Bedenken wegen der Kostenlimite bei solch ungewöhnlicher Fehlsichtigkeit – schreitet er mit Versuchsgläsern zur Tat. Die Freundin lässt geduldig alles über sich ergehen. Verleiht ihr das im Voraus in Aussicht gestellte «Zvieri» Flügel? Auch der Optiker beweist viel Geduld. Denn unterdessen ist viel Zeit vergangen.

Mit dem entstellenden Gestell und flaschenbodendicken Gleitsichtgläsern im Gesicht lächelt die Greisin freundlich in die Runde, als sei sie jeden Tag zur Brillenauswahl bei Fielmann. Währenddessen denke ich besorgt, ihr Gehirn werde mit einer solch anspruchsvollen Umstellung – in ihrem Alter und erst recht wegen ihrer Demenz – überhaupt nicht mehr fertig. Ich verstehe den Augenarzt nicht. Leider ist auch der Optiker felsenfest davon überzeugt, dass eine Umgewöhnung kein Problem sei. Inzwischen rede ich mit Engelszungen. Endlich lässt er meine Freundin probehalber mit den neuen Gläsern im Laden herumgehen. Sie schafft nicht einmal zwei Schritte. Ich kann sie gerade noch auffangen, damit sie nicht stürzt. Der Test hat glücklicherweise etwas Überzeugendes.

Ich rege eine simple Lesebrille an. Daraufhin macht die dritte Optikerin einen Sehtest mit der «Frau Mammaaa», die strahlt, als hätte sie im Lotto gewonnen. Sie scheint die Buchstaben alle zu erkennen, so schnell rasselt sie sie herunter… Ich sitze wie auf Kohle. Doch oh Wunder! Nach fünf Viertelstunden sind wir jetzt auf dem besten Weg. Verschiedene Brillengestelle liegen zur Auswahl auf dem Tisch. Da sagt die alte Frau plötzlich ganz entschieden: «Ich habe noch nie eine Brille getragen und will auch keine. Ich brauche gar keine Brille!» Dabei bleibt sie, stur wie ein Maultier, da ist nichts zu machen. Am Ende versteigt sie sich sogar zur Behauptung, sie habe schon ewig lange eine Brille, sie müsse sie bloss suchen. Jemand verstecke sie dauernd, wahrscheinlich sei sie inzwischen in ihrem Nachttisch, sie finde sie bestimmt noch heute Abend, wenn sie nicht schon wieder weggenommen worden sei. Nach 1½ Stunden «Keine Brille: Fielmann.» verlassen wir das Geschäft: ich mit schamroten Wangen, der Fielmann-Crew insgeheim ein Kränzlein windend, sie vergnügt und völlig im reinen mit sich und der Welt. Unbeschwert lässt sie sich das versprochene «Zvieri» schmecken. Schon auf dem Rückweg ins Pflegeheim hat sie den ausgedehnten Fielmann-Besuch ganz und gar vergessen.

Seither sind gut zwei Jahre vergangen. Inzwischen ist sie 97. Nach wie vor freut sie sich über jeden Besuch. Doch sie hat noch immer keine Brille. Sie hat auch keine Lust mehr zu lesen.

Und der Sozialdienst hat Fr. 200 eingespart.

Elisabeth, 13.3.2019

7 Kommentare zu „Brille: Fielmann.

  1. Liebe Elisabeth,
    wie schön, dass Du Dich um Deine alte Frendin kümmerst! Das Ergebnis Eures Fielmann-Besuchs kann ich sogar gut nachvollziehen. Sollte ich mich doch lt. meiner Augenärztin auch mit Ende 60 noch auf eine Gleitsichtbrille umstellen. Gut, ich habe es auch nach einem Fielmann-Besuch ehrlich versucht, habe sie probeweise ein paar Wochen getragen und bin vor allem beim Treppensteigen fast gestolpert und Lesetexte haben sich verschoben.
    Bei allem guten Willen, ich habe sie wieder zurückgegeben und bleibe bei meiner Computerbrille (diese habe ich schon gut 20 Jahre) und achte meine neue Lesebrille, mit der ich nun angepasst an meine jetzige Augensituation gut lesen kann. Du siehst, man muss nicht so alt wie Deine Freundin sein, um die gleiche Erfahrung zu machen.
    Im normalen Leben benötige ich also bis jetzt noch keine Brille und zum Lesen und computern hat sich eine Lösung gefunden.
    Mit lieben Grüßen und Vorfreude auf Deine nächste Geschichte
    Ursula

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  2. Liebe Ursula, mir geht’s wie Dir, und ich fahre gut damit. Das Beste daran: als Kurzsichtige kann ich aus der Nähe sogar noch die kleinste Schrift lesen – nicht so DER MANN, trotz Gleitsichtbrille. Man muss ja nicht alles korrigieren, das technisch möglich wäre. Liebe Ursula, Deine Kommentare und eigenen Erfahrungen schätze ich sehr. Herzlichst, Elisa

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  3. einfach herrlich, wie du schreibst! Diese Geschichte erinnert mich an mein Schwiegermami, sie war so liebenswert und lustig in ihrer Demenz. Das Beste, was sie mal gesagt hat: Ach….das Alter lässt langsam nach!

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  4. Liebe Brigitte, vielen Dank für Dein Kompliment, das mich sehr freut. Deine Wärme hat Deinem Schwiegermami bestimmt gut getan. „Das Alter lässt langsam nach“ – was für ein herrlicher Satz! Eine ehemalige Nachbarin sagte bei unserem letzten gemeinsamen Kaffee mit Kuchen alle paar Minuten, wie froh sie sei, wegziehen zu können, denn „die Wände in der Wohnung sind stumm, die reden und reden einfach nicht.“ Liebe Grüsse, Elisabeth

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