Angsthase

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Ich geb’s ungern zu: Ich bin ein Angsthase. Es braucht nicht viel, bis ich mich fürchte. Aber so gefürchtet wie in Kalifornien habe ich mich noch selten. Und das gewiss erst noch zu Recht.

Mit einer Kollegin bin ich nach La Mesa in der Nähe von San Diego gereist. Sie hatte dort einst ein Austauschjahr verbracht und kann nun ein paar Tage bei Susan, ihrer «USA-Schwester», übernachten. Für mich hat Susan ein Motelzimmer gebucht. Beim Bezug des Zimmers legt sie die Nummer der Polizei zum Telefon auf dem Gestell neben der Tür. «Die werde ich wohl kaum brauchen», denke ich bei mir. Doch als sie mich spät abends zum Motel bringen, erfahre ich, dass das Motelpersonal jeweils nur bis 23 Uhr anwesend ist, sämtliche Angestellten haben die Anlage bereits verlassen, selbst die Rezeption ist jetzt, gegen 23.30 Uhr, völlig verwaist. Überhaupt macht der Ort einen sehr verlassenen Eindruck, ganz so, als wäre ich die einzige, die zum Übernachten hier ist.

Jetzt erst inspiziere ich meine Umgebung, die mir am Nachmittag noch einen guten Eindruck gemacht hat. Merkwürdig, wie sich Normales, Harmloses bei Dunkelheit verändert und mit einem Mal etwas Unheilschwangeres auf sich trägt… Meines ist das letzte Zimmer, ganz zuhinterst im langen, einsamen Hof, unmittelbar daneben führt eine offene Treppe in den ersten Stock. Die (natürlich) abschliessbare Zimmertüre bietet den einzigen, indes bei näherem Hinsehen eher knappen Schutz gegen den Aussenraum. Auch das grosse Fenster rechterhand mit seinem schmalen, kaum richtig schliessenden Vorhang schirmt mehr schlecht als recht ab, d.h. wenn ich in der Nähe der Tür stehe, kann man mich und was ich gerade mache, von aussen ohne weiteres sehen. Wie geht das schon wieder in den Krimis? Warum nicht wie eine unerschrockene Filmheldin einen Stuhl unter die Türfalle klemmen, um sie zu blockieren? «Ja natürlich, dann werde ich mich sicherer fühlen», denke ich. Doch der berühmte Trick versagt hier, der einzige Stuhl im Zimmer ist zu niedrig. Noch nehme ich die Sache relativ locker.

Wider Erwarten schlafe ich schon bald ein, müde von den vielen Eindrücken des Tages, die die USA bieten. Plötzlich erwache ich, als ein Auto in den Hof prescht und mit quietschenden Reifen unweit meines Zimmers stoppt. Ich sehe Scheinwerfer aufleuchten. Kurz darauf Schritte, Flüche, grob brüllende Männerstimmen, eine laut kreischende Frauenstimme. Dann wird offensichtlich jemand die Treppe neben meinem Zimmer hochgeschleppt. Die Frau schreit entsetzlich, jetzt schräg über meinem Kopf. Ich liege wie erstarrt. Ich wage nicht aufzustehen und zum Fenster zu schleichen, um hinauszusehen; ich wage nicht einmal den Schritt zum Telefon neben der Türe, um die Polizei anzurufen. Was, wenn sie mich entdecken? Mich hören? Gar auf die Idee kommen, in mein Zimmer einzubrechen, dieses am entferntesten vom Eingang liegende? Der kalte Schweiss bricht mir aus allen Poren. Ich zittere wie Espenlaub. Die Schreie der Frau gehen mir durch Mark und Bein. Sie tönen derart qualvoll, rhythmisch stossend, als würde die Bedauernswerte brutal vergewaltigt. Ich kann kaum mehr atmen, bin einer Ohnmacht nahe. Plötzlich, wie eine Erlösung, erklingt von der Strasse her eine Polizeisirene durch die Nacht. Im Nullkommanichts poltern Füsse neben meinem Kopf die Treppe herunter, die Frau wimmert jetzt, dann werden Autotüren zugeschlagen, ihre Stimme verstummt. Mit dem Wegfahren des Autos wird es still – unheimlich still. Doch noch immer hämmert mein Herz wie wild. Ich kann nicht mehr schlafen. Dem Lärm nach zu schliessen, ist der Frau Schlimmes passiert. Hätte ich nicht mutiger sein müssen?

In der kommenden Nacht werde ich erneut aus dem Schlaf geschreckt. Was war es, das mich geweckt hat? Tatsächlich, das Zimmer bebt, zuerst ganz sanft, dann stärker und stärker. Ein Erdbeben! Es ist, wie wenn sich der Raum in einer Riesenfaust befände, die ihn durchschüttelt. Alles ruckelt, wackelt, Gegenstände scheppern. Ich knipse die Nachttischlampe an. Ängstlich und gleichzeitig fasziniert schaue ich zur Zimmerdecke hoch. «Wenn Risse erscheinen, muss ich in die Dunkelheit hinausrennen», überlege ich. «Hoffentlich kommen dann die brutalen Männer nicht wieder.» Die Risse bleiben aus, das Beben verebbt. Am andern Tag fragt Susan: «Bist du auch brav unter den Türrahmen geflüchtet wie wir heute Nacht?» Als ich verneine, schüttelt sie befremdet den Kopf. «Man bleibt bei einem Erdbeben doch nicht ruhig in den Federn liegen, das weiss doch jedermann! Wenn die Zimmerdecke runterkommt, bleibt keine Zeit mehr zum Weglaufen. Versprich mir, wenn Nachbeben kommen, stürzst du dich unverzüglich aus dem Bett und läufst unter den nächstbesten Türrahmen!» Das ist die Tür zum Hof, die ich lieber verriegelt lasse…

Ich habe genug. Noch am selben Tag ziehe ich in ein kleines, rund um die Uhr bedientes Hotel um.

Angsthasen sollte man nachts nicht alleine lassen!

Elisabeth, 13. Februar 2019

2 Kommentare zu „Angsthase

  1. Hallo Elisa,
    was für ein Erlebnis! Bestimmt hat das nichts mit „Angsthase“ zu tun, nach solchen Nächten kann man nur die Flucht ergreifen. Die einzig richtige Entscheidung und die Konsequenz, solche Übernachtungsvarianten künftig zu meiden. Dein Beitrag zeigt aber auch, dass Du eine vielgereiste Person bist und vieles erlebt hast. Zur Freude von uns Lesern wohlgemerkt. Weiter so! Bis bald herzliche Grüße von Ursula

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