Die Tante ist schon früh Witwe geworden. Nun steht das Tor zum siebten Himmel wieder weit offen: sie heiratet nochmals, mit 70. Braut und Bräutigam haben Jugend und Schönheit schon eine Weile hinter sich, doch was tut’s? Sie sind kugelrund, vergnügt, heftig verliebt und feiern ihre Altersliebe, dass es nur so eine Freude ist.
Ein paar Jahre vergehen, ruhige, schöne Jahre, so jedenfalls macht’s den Anschein. Und dann, ganz unerwartet, beginnt es im siebten Himmel mächtig zu rumoren! Die Tante ruft ihre Tochter an, wieder und wieder. Sie beklagt sich bitter, ihr Herbert plage sie, er sperre sie dauernd ein, sie dürfe überhaupt nicht mehr allein nach draussen gehen. Es tönt so dramatisch und bemitleidenswert, dass Tochter und Schwiegersohn sich grosse Sorgen machen. Ist Herbert nicht ein Geschiedener? Und hat nicht einmal mehr Kontakt zu seinen Söhnen? Bestimmt nicht ohne Grund… Nach reiflicher Überlegung beschliessen sie, die Muttter zu retten. Ein Muster scheint sich herauszuschälen: Immer freitags lässt sich Herbert rasieren und geht anschliessend einkaufen. Tochter und Schwiegersohn schreiten also an einem Freitag zur Tat: Vor dem Weggang des Ehemanns kommen sie ganz harmlos zu Besuch, und als Herbert dann beim Coiffeur sitzt, packen sie in Windeseile Mutters Sachen, entführen sie, bringen sie im eigenen Haus «in Sicherheit». Dort reden sie ihr zu, die Scheidung umgehend einzureichen und helfen tatkräftig mit. Jetzt macht der Mann Terror: er ruft dauernd an, sogar nachts, er weint, er brüllt, er schreit, er droht. Doch niemand hört ihm zu, das Telefon wird aufgehängt und schliesslich abgestellt, sind seine Telefonate doch der schlagende Beweis für seine Aggressivität. Der Scheidungsprozess zieht sich dahin, alle sind mit den Nerven am Ende, aber schliesslich ist die Ehe geschieden. Ade, siebter Himmel! (Oder war’s die Hölle?)
Die Mutter wohnt jetzt definitiv bei Tochter und Schwiegersohn. Kurze Zeit später verlässt die alte Frau immer wieder das Haus, ohne zu sagen, wohin sie geht. Eines Tages folgt ihr die Tochter heimlich. Und was sieht sie? Die Mutter trifft ihren Ex-Mann im Tea Room. Lachend und Torte essend, plaudert sie mit ihm, als wäre sie frisch verliebt. Sie sieht glücklich aus, und er auch. Die Tochter ist perplex, und plötzlich erinnert sie sich, dass ihr in letzter Zeit an der Mutter immer wieder Ungereimtes, Merkwürdiges auffällt. Was ist nur los mit ihr? Schritt für Schritt kommt die Wahrheit ans Tageslicht. Wenn man in die verschmitzten blauen Augen blickt, in denen noch immer Lebenslust aufblitzt, glaubt man’s kaum, doch ist es leider wahr: Sie ist dement. Ihr Mann hat sie jeweils eingeschlossen, wenn er einkaufen ging oder sonstwie etwas erledigen musste. Wegen ihrer fortschreitenden Demenz fürchtete er offenbar, sie könnte, allein auf sich gestellt, ausser Haus etwas Dummes anstellen.
Bald verwischt ihre Krankheit auch die glücklichen Erinnerungen an ihre heimlichen Rendez-vous, und ihr Ex-Mann muss fortan im Tea Room alleine Torte essen.
2. Juli 2018, Elisabeth